"Sie erinnern sich: …Kain"

Über Stanislaus Joyce' "Meines Bruders Hüter"

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er fühlte sich unwohl in der Rolle, die er im Schatten des um zweieinhalb Jahre älteren James innehatte; doch zum biblischen Brudermord veranlasste das Gefühl des Zu-kurz-Gekommenseins Stanislaus Joyce trotzdem nie: Vielmehr hat Stanislaus (1884-1955), 1904 seinem Bruder auf dessen nachdrückliches Drängen nach Triest folgend, denselben über die zähe Durststrecke nicht nur finanziell unterstützt. Als James Joyce schließlich Erfolg hatte, schieden sich ihre Wege: Stanislaus, der als Professor für englische Literatur bis zu seinem Tod in Triest bleiben sollte, war mit James' Spätwerk nicht einverstanden - wobei er in der Öffentlichkeit ein vehementer Verteidiger von allem blieb, was sein Bruder tat.

Die Neuauflage von Stanislaus Joyce' Beschreibung eines genialen Bruders in der Übersetzung von Arno Schmidt, der dabei der letzten Rechtschreibreform vorgriffen hat, ist überaus lesenswert. Die Einführung durch Richard Ellman trägt dazu mehr bei als das Vorwort durch T. S. Eliot.

Über die Realien über den Erneuerer des Romans hinaus leistet das Buch einiges andere: Es ist unbewusst selbst ein Roman, zu einem in der europäischen Literatur selten so intensiv erfahrbaren Bruderverhältnis, welches in seiner Komplexität gewissermaßen immer noch zwischen den Zeilen schwelt. "Sie erinnern sich: Kain" pflegte der Jugendbiograf des Vorgeborenen sein Unterfangen zu erläutern.

"Meines Bruders Hüter" schildert Charakter und Lebensumstände von James Joyce bis zu seinem Fortgang aus Dublin nach Triest im Jahr 1904. Dann bricht das Manuskript ab, das der Literaturprofessor Stanislaus Joyce während der Kriegsjahre auf Grund seiner Tagebücher und eines außergewöhnlichen Gedächtnisses zu schreiben begann, um als "Hüter seines Brüders" die ersten Darstellungen der irischen Jahre von James, die damals erschienen, zu berichtigen. Der frühe Chronist des Erstgeborenen erklärt: "...ich habe immer an meinen Bruder geglaubt; nicht wie ein jüngerer Bruder, der eben zu einem älteren aufsieht - ich habe stets mehr zu Grämlichkeit tendiert als zu Bewunderung - sondern weil ich in ihm einen geistigen Typ zu erkennen meinte, völlig verschieden von allen anderen [...] - etwas Direktes, Scharfes, Unnachgiebiges, Gleichgültiges gegen das eigene Fortkommen im Leben. Ungefähr um diese Zeit begann ich ein Tagebuch zu führen, das mehr ein Protokoll seiner Taten, seines Tuns und Treibens, als meines eigenen war. Das stimmt, dass wir nahezu immer zusammen waren; denn überall wo mein Bruder hinging, da ging sicherlich auch ich, wie ein nicht übermäßig liebenswürdiges Lämmlein."

Als "bemerkenswert freimütig und tiefschürfend" bezeichnete Ellman in der Einführung von 1959 das Ergebnis. Damit meint er den aufrechten Charakter von Stanislaus, geprägt von einer kompromisslosen Haltung gegen die irische katholische Kirche, den Vater und den italienischen Faschismus, der diesem das Fortkommen schwieriger gestaltete als James, der in Form seines Schreibens "das Leben parodierte" und auf gewisse Weise Genugtuung fand; Stanislaus steter Vorwurf an "Jim" besteht darin, dass dieser nie offen gegen das opponierte, dem sich Stanislaus stellte: "...ich war der Erste und vielleicht der Einzige, der damals schon begriff, dass der Grundton von meines Bruders Werk Rücksichtslosigkeit heißen würde, nicht Feinsinnigkeit." Während Stanislaus gegen die verhassten Jesuiten rebellierte, von denen James Stipendien erhielt und dem Vater am Totenbett der Mutter gerechtfertigterweise eine Szene machte, wo James es am guten Auskommen mit diesem beließ, der doch die vielköpfige Familie unbekümmert auseinander gesoffen und die verzweifelte Mutter, als sie im Sterben lag, angefahren hatte, sie solle jetzt endlich zur Hölle fahren, damit er zu seinen Kumpanen ins Wirtshaus zurückkehren könne. - Stanislaus reagierte bitter auf diese, wie er schreibt, typisch irischen Zustände. Er setzte nie wieder mehr Fuß in eine Kirche und hat nach seinem Fortgang Irland nicht mehr betreten. James dagegen wusste sich um seiner Kunst Willen mit allen zu arrangieren, hielt an bestimmten Ritualen und Umgangsformen fest und stattete seiner Heimat, der "Sau, die ihre Ferkel frisst" später noch mehrere Visiten ab.

Stanislaus schreibt: "Er hat nicht versucht, das nationale Problem zu lösen. Er hat ihn ein Schnippchen geschlagen, um seine Seele zu retten. Später hat er begriffen, dass er Odysseus war, der Polyphem verhöhnt, und ihm seinen Namen und Rang kundtut."

Was Ellman bei Stanislaus als "tiefschürfend" bezeichnet, resultiert aus demselben Konflikt, den letzterer Kainitisch nennt: Das Hadern mit dem Glauben, nachdem des Bruders Opfer von Gott angenommen wird; "Gott" bestand für beide Brüder freilich als die Literatur. James setzte diese Maxime in die Tat um, Stanislaus erkämpfte sich seine Erkenntnisse hart. Zeitlebens las er hinter seinem Bruder, der Bücher verschlang, um sie zu vergessen oder auszuplündern, systematisch nach, konnte nicht studieren, weil er mit heuchlerischen Geistlichen nicht auskam und ärgerte sich, wenn sein Bruder Bordelle und Pubs aufsuchte, was für ihn, den Ernsthaften und Verantwortungsvolleren, nicht in Frage gekommen wäre. Dennoch schlich auch in der Zeit getrennter Wege der Bettgeher seines Bruders "in den Außenbezirken Freundschaften herum", zweifelsvoll als "eine Art schweigsamer Knappe" seines Bruders akzeptiert. Der verhasste Vater titulierte Stanislaus "den Handlanger seines Bruders".

Jeder moderne Mensch suche die Antwort auf intellektuelle und emotionale Fragen, so Stanislaus, nicht in der Religion, sondern in der Literatur; die in Parabeln antwortet - wie das Orakel von Delphi.

Die "Fähigkeit an ein Absolutes glühend zu glauben, [...] maßgebliche Gabe des Dichters." - ging Stanislaus ab; dafür gewann er aus der Erfahrung seines Bruder die Ansicht: "Die Wahrheit scheint zu sein, dass Jemand, der in jungen Jahren Gott geliebt hat, nie mehr etwas lieben kann, das weniger erhaben ist. Der Gegenstand mag ein anderer werden; aber das Bedürfnis der Dienstbarkeit gegenüber Etwas außerhalb des eigenen Ich, sub specie aeternitatis, bleibt."

Irland bildete für beide Brüder, die ihm als Zwanzigjährige den Rücken kehrten, das wesentliche Material zur "Anschauung der tieferen Bedeutung des Lebens". Bei James ist daraus Dichtung geworden, denn, wie Stanislaus es nennt "die höchsten Grade von Dichtung und Filosofie befassen sich mit den Gesetzen, die nicht gelegentlich Feiertag machen. Dichtung bedeutet einen Aufstand gegen Künstlichkeit, und, in gewissem Sinne, sogar gegen die Wirklichkeit. Die simplen Eingebungen des Dichters sind der Prüfstein der Wirklichkeit; und jede Generation muss ihre Berechtigung durch ihrer Leistungen in Dichtung und Filosofie nachweisen; denn nur in ihnen erreicht der Menschengeist, er blicke rückwärts oder nach vorn, etwas wie einen Zustand von Ewigkeit. Solche ekstatische Betrachtung ist das Ziel der höchsten Art Dichtung."

Titelbild

Stanislaus Joyce: Meines Bruders Hüter.
Übersetzt aus dem Englischen von Arno Schmidt.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
345 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3518223755

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