Fakten und Interpretationen

Das Handbuch zu Heiner Müller

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn nun Heiner Müller, wie in den letzten Jahren Lessing, Goethe, Schiller oder Brecht, ein eigenes "Handbuch" gewidmet ist, so deutet das auf eine schnell gewonnene Klassizität hin, die gerade bei diesem Autor des Fragments und der Montage verwundert. Jedenfalls scheint der 1995 gestorbene Müller als einer der bedeutenden Autoren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr umstritten und wirken totalitarismustheoretische Aburteilungen, wie Richard Herzinger oder Horst Domdey sie noch vor zehn Jahren versuchten, wie Kämpfe einer längst vergangenen ideologischen Zeit; die Aufführungszahlen der Dramen sind stabil. Ein Handbuch zu Müller hat damit eine doppelte und darin paradoxe Aufgabe: dem Interessenten verlässliche Informationen zu liefern und gleichzeitig das subversive Potential dieses irritierenden Autors wieder produktiv zu machen.

Der von Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi herausgegebene Band entledigt sich der ersten Aufgabe durch einen hundertseitigen Anhang, der neben einer umfassenden Bibliographie und Listen von Inszenierungen der Dramen Müllers, von Hörspielfassungen wie von Kompositionen von bzw. nach Müller sowie - in Artikeln zu einzelnen Ländern oder Regionen - Angaben über die internationale Wirkung Müllers bereitstellt. Der künftigen Forschung wird so die Arbeit wesentlich erleichtert, auch wenn bei genauerem Blick ein Mangel auffällt, der allzu eiliger Veröffentlichung geschuldet sein dürfte: Die Inszenierungen im deutschsprachigen Raum scheinen recht zuverlässig erfasst, doch sonst fehlt sogar eine Vielzahl jener Aufführungen, die in den Länderberichten im selben Buch als wegweisend genannt sind.

Zum größeren Problem werden dann Leben und Werk. Das Bild vom Leben ist wesentlich überformt von autobiographischen Äußerungen Müllers aus seinem letzten Lebensjahrzehnt. Hier nun müsste das Faktische in sein Recht treten, freilich gerade nicht, um Müller einer Verfälschung zu überführen. Selbststilisierung war stets Teil von Autorschaft, überhaupt und gerade in diesem Fall. Weder sollte sie Anlass für glaubensbereite Folgsamkeit noch für moralische Vorwürfe sein, sondern Zugang, ein Lebenswerk - in der Zusammenschau beider Bestandteile des Worts - zu analysieren. Dafür freilich bedarf es des Faktischen. Das liefert Norbert Otto Eke für die Zeit bis zum Ende der sechziger Jahre. Allzu deutend verfahren dann schon Alexander Karschina und Hans-Thies Lehmann für die folgenden beiden Jahrzehnte, während Joachim Fiebach für die Zeit noch 1989 sich in Werkinterpretationen verliert, die in späteren Teilen des Handbuchs zum Teil wiederholt, zum Teil konterkariert sind. Fiebachs Wendung gegen die rechtsliberale Kritik eines Horst Domdey, der das Bestehende als die beste aller möglichen Welten suggeriert, ist richtig und bleibt doch unter Müllers Fähigkeit, Härten zu denken. Nicht umstandslos ist Müller den Reformsozialisten hinzuzurechnen, an deren Seite er sich 1989 tatsächlich wiederfand und die eine freundlichere, demokratische DDR retten wollten. Müller weiß auch, dass Revolutionen blutig sind, Gewalt, ja: Terror bedeuten. Weil er die Schrecken der Klassenherrschaft und der Ausbeutung der "Dritten Welt" kennt, weist er nicht die Schrecken zurück, die notwendig sind, derartige Herrschaft zu beseitigen. Müller denkt und schreibt geschichtlich, nicht moralisch.

Das Werk, das ganz zu Recht auch im Zentrum dieses Handbuchs steht, formt diese Erkenntnis freilich nicht in rationaler Rechtfertigung von Gegenherrschaft, wie etwa Müllers Antipode Peter Hacks sie unternimmt. Müller verschweigt nicht, was den Individuen in einem revolutionären Prozess widerfährt, dessen Ausgang ungewiss war und der sich spätestens ab den achtziger Jahren als vergeblicher Anlauf heraustellte. Zunächst sind es Handlungskonstellation und eine konzentrierte Sprache, in denen Widersprüche aufeinanderprallen, deren harmonische Auflösung in etwas wie einer "Synthese" unerreichbar scheint. Von der Mitte der siebziger Jahre an dringt der Konflikt dann in den Körper ein, genauer: in den Körper des Schauspielers, denn die Mehrzahl der Texte Müllers sind Theatertexte. Zum Austragungsort des Konflikts wird dann, sich stets bis zur "Hamletmaschine" von 1977 radikalisierend, die Bühne, das Bild, die Bewegung; der Text tendiert immer mehr zum reinen Material für die Aufführung, bis mit "Der Auftrag" (1979) und der Szenenfolge "Wolokolamsker Chaussee" (1984-1987) eine Gegenbewegung einsetzt, in der der Autortext aufgewertet wird. Dabei bleibt, dass Müllers Texte keinen eindeutigen Gehalt vorgeben, sie kein Bild der Geschichte aufzwingen, sondern sie eine Strategie der Überschreibung historischer Ebenen und damit für den Zuschauer: einer Archäologie der Geschichte verfolgen.

Wie bringt man aber so etwas ins Handbuch-Format? Wenn doch die Abfolge der "Werke" keineswegs klar ist, ihr "Autor" zudem in Inszenierungen Textzusammenhänge auflöst und neue Kombinationen herstellt? Wenn die Bestandteile Gattungsgrenzen überschreiten, wenn ihr "Inhalt" keineswegs aus der Lektüre folgt, sondern erst aus der Verkörperung, Verkörperlichung auf der Bühne?

Am besten pragmatisch; man kann den Texteinheiten folgen, die Müller für den Druck zusammengestellt hat und die ein Theaterbesucher zu sehen erwartet, wenn er beispielsweise eine Karte für "Der Auftrag" erwirbt, mag er dann auch im Detail andere Texte umgesetzt sehen als er vermutete. Das funktioniert im Handbuch recht gut. Zuweilen ist die postmoderne Dekonstruktion - die Müller seinen internationalen Erfolg sicherte - dennoch etwas weit getrieben, besonders wenn ein früher Text wie der 1964 abgeschlossene "Philoktet" als Theater des Körpers gesehen wird; doch ist sonst in diesem Fall und auch generell das Niveau der Interpretationen hoch, wird auch souverän das ohnehin fragwürdige Handbuch-Genre unterlaufen, das ja mit dem Versprechen gesicherten Wissens wirbt und derlei positivistischen Eifer dann doch mit, ja: Deutung unterläuft. Wie aus einer der Sache entsprechend unpräzisen Abgrenzung des Gegenstands dennoch Erkenntnisse zu gewinnen sind, die weiterhelfen, ohne den poetischen Text polizeilich auf eine Gesinnung festzuschreiben, führt etwa Rainer Nägele in seinen Beiträgen zu "Prosaschreiben, Traumtexte, Verse" vor.

Was so nicht erfasst werden kann, das umreißen zahlreiche Beiträger in zwei einleitenden Blöcken zu Themen in Müllers Werk und zu Müllers Verhältnis zu verschiedenen Aspekten der literarischen Tradition. Dabei wirkt sich positiv aus, dass die Herausgeber einen pluralistischen Ansatz beförderten, auch jüngeren Beiträgern Raum ließen, nicht jedoch der literaturfeindlichen Simplifizierung eines Herzinger oder Domdey Vorschub leisteten.

Ein grundsätzlicher Einwand aber bleibt. Wesentlicher Bestandteil besonders des späteren Werks bilden Interviews; nicht umsonst ist, was unter dem Titel "Krieg ohne Schlacht" (1992) erschien, als Interview gekennzeichnet und nimmt die Rubrik "Gespräche und Interviews" in der Bibliographie gut zehn Seiten ein, davon etwa die Hälfte für die Zeit seit 1989. Für den späten Müller, der auf dem Höhepunkt seiner öffentlichen Anerkennung kurz vor seinem Tod nur wenig mehr schrieb, war das Interview vielleicht sogar die eine wesentliche Gattung. Im Handbuch taucht es dennoch nur als Negativum auf, etwa bei Nägele, der ganz zu Recht moniert, wie sehr das Zitat von Müller-Äußerungen die Auseinandersetzung mit seinen Texten überdeckt, der freilich auch nicht erwägt, inwiefern das Genre Interview eine spezifische Textsorte sein könnte. Diese Frage behandelt das "Heiner Müller Handbuch" nirgends und bleibt so ein zwar wertvoller, doch den heutigen Kenntnisstand nicht erschöpfender Beitrag zur Diskussion um einen Autor, der im Zeitalter der Globalisierung nützlicher ist denn je.

Titelbild

Hans-Thies Lehmann / Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller Handbuch. Leben-Werk-Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2003.
525 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-10: 3476018075

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