Von der Kälte der Welt

Andrej Kurkows "Pinguine frieren nicht"

Von Evelyne von BeymeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Evelyne von Beyme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein unfreiwilliger Platztausch zwischen Pinguin Mischa und dem von der Mafia verfolgten ukrainischen Journalisten Viktor bildet den Ausgangspunkt von Andrej Kurkows handlungsreichem Entwicklungsroman "Pinguine frieren nicht". Mit der Kreditkarte und den gefälschten Pässen als Vermächtnis eines vergifteten reichen Bankiers schmuggelt sich Viktor aus der antarktischen Polarstation zurück nach Kiew, wo die Suche nach Pinguin Mischa ihn in einen Strudel der Gewalt hineinzieht.

Vom Programmschreiber des Mafia-Bosses Sergej Pawlowitsch in Kiew, zum Abgeordneten, der zum "anständigen" Politiker mutiert bis zum versklavten Bediener einer Leichenverbrennungsanlage in dem vom Krieg zerfressenen Tschetschenien schleudert Kurkow seinen Protagonisten von einem Geschehen ins nächste, bis Viktor den Pinguin letztendlich abgemagert in einem Zwinger zwischen zähnefletschenden Hunden vorfindet.

Die geplante Rückführung Mischas in seine Heimat macht aus dem ehemaligen Journalisten einen Abgeordnetenberater, der nach Kroatien eine Armwrestling-Mannschaft in Rollstühlen entsendet - mit Mischa als Maskottchen -, um sich mitsamt dem Pinguin in der Antarktis abzusetzen. Der gewünschte Zielort wird jedoch nie erreicht. Stattdessen endet der Roman dort, wo er nach der erzählten Zeit ein Jahr zuvor seinen Anfang nahm: irgendwo in Argentinien.

"Pinguine frieren nicht" lässt sich als Fortsetzung zu Kurkows Roman "Picknick auf dem Eis" (2000 auf Deutsch erschienen) lesen, der die Vorgeschichte von Viktors Journalistenleben und seiner Bekanntschaft mit Mischa bis zu seiner unabdingbaren Flucht aus Kiew verfolgt. Warum diese Ausrichtung auf den Pinguin, wird sich der Leser an der einen oder anderen Stelle fragen. Den Pinguin nutzt Kurkow als Spiegelbild von Viktors Innenleben, etwa wenn diesem beim Anblick Mischas so ist, als wäre er selbst "der einsame ratlose Pinguin, der nicht wußte, was er mit seinem Leben anfangen, wie er sich mit ihm zufrieden geben sollte".

Das dem Pinguin implantierte Kinderherz wird nicht grundlos von dem gebürtigen Petersburger in die Erzählung mit eingebaut, verweist es doch auf die sublime Verflechtung dieser beiden Figuren miteinander, indem es die semantischen Merkmale von 'Menschlichkeit', 'Naivität' und 'Gutgläubigkeit' in sich trägt, während die Gestalt des Pinguins den allen Tieren innewohnenden, instinktiven Erfüllungsversuch der eigenen Grundbedürfnisse sowie die Abhängigkeit von der Umwelt widerspiegelt, um somit das durch den auktorialen Erzähler vermittelte Bild der Gestalt Viktors zu vervollständigen.

Dass sich der Titel "Pinguine frieren nicht" nur indirekt auf den Pinguin bezieht, demonstriert Kurkow durch seine Darstellung eines Gefüges aus sozialer Kälte und den höher geltenden, ungeschriebenen Gesetzen im Osten, denen sein Protagonist aufs Verderben hin ausgesetzt zu sein glaubt. Dort wird nur der nicht erfrieren, der sich dem rauen Mentalitätsklima anpassen kann.

Viktors Flucht mit Pinguin Mischa ist das Resultat eines durch äußere Umstände angestoßenen inneren Entwicklungsprozesses, aus dem ein Mensch hervorgeht, der seine blinde Naivität im Laufe der Erzählung abstreift und sich von seinem Marionetten-Dasein befreit. Obwohl "Pinguine frieren nicht" in seinem Handlungsreichtum nahezu jeden anderen Roman übertrifft, kann von Überforderung des Rezipienten nicht die Rede sein.Kurkow zählt eben zu den wenigen, die es vermögen, in ihren Werken bei Intensivierung des Handlungsgeschehens auch noch den Spannungsdurst im Leser zu stillen.

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Andrej Kurkow: Pinguine frieren nicht. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Sabine Grebing.
Diogenes Verlag, Zürich 2003.
537 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3257861028

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