Kultur - handlich

Eine Forschergruppe liest das Werk Ernst Cassirers

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass der Begriff "Handbuch" recht dehnbar ist, beweisen Veröffentlichungen aus dem Verlag Metzler immer wieder: In der Reihe der "Handbücher", die im Großoktavformat erscheinen, finden sich beispielsweise die mehrbändigen Handbücher zu Brecht und Goethe, die so ziemlich alles umfassen, was man zu Leben und Werk der Person wissen kann oder will. Daneben reagieren ebenfalls mehrbändige themenspezifische Handbücher zum Pragmatismus oder zuletzt zu den Kulturwissenschaften mit enzyklopädischer Systematisierung auf das ungebrochene Verlangen nach mehr Übersichtlichkeit. Handbuch Orgelmusik, Handbuch interkulturelle Germanistik, Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Erkennbare Schwerpunkte des Verlages sind vor allem Musik, Literatur und die Philosophie.

Dass je nach Themengebiet ein anderer Aufbau und Umfang der "Handbücher" gesucht wird, ist dem Verlag bzw. seinen Lektoren positiv anzurechnen: Orgelmusik im Ganzen und Rilke im Besonderen müssen jeweils anders behandelt werden. Wie sieht es allerdings innerhalb einer Disziplin wie beispielsweise der Philosophie aus? Auch hier wird man ein thematisches Handbuch anders als ein biografisches behandelt sehen wollen. Aber Handbücher zu einzelnen Philosophen? - Sollten hier nicht durchgängig gleiche Kriterien gelten?

Dass darüber Unklarheit herrscht, beweisen die Unterschiede zwischen bisherigen Erscheinungen: Das Nietzsche-Handbuch etwa (ähnlich dem zu Hölderlin) zeugt von einer intensiven Vorbereitung und dem Kenntnisreichtum des Herausgebers in Sachen Editionsgeschichte und Themenrezeption, schon allein durch den Aufbau des Buches (die Gliederung in Textzusammenfassungen, Editionsgeschichte, Stichworte, Themenfelder, Rezeptionsverläufe, Vorläufer Nietzsches, Personen um Nietzsche) und in der Folge die entsprechend gezielte Auswahl einzelner Autoren für die jeweiligen Beiträge. Dagegen mutet das Handbuch zu Heidegger wie ein verdeckter Tagungsband an, in dem zwar alle erdenklichen Themen abgedeckt werden, deren Systematik aber eher zufällig ist und mehr über die einzelnen Beiträger als über Heidegger verrät. Das Kant-Handbuch ist schließlich nur noch die Summe der Auseinandersetzungen, die der Herausgeber als sein zugleich einziger Autor im Laufe seines akademischen Lebens mit den Schriften Kants geführt hat. Entsprechend harsch und einhellig war die Kritik vor allem an diesem Band. (Das man es selbst ohne ausführliche Rezeptionsgeschichte als alleiniger Autor besser machen kann, bewies Walter Jaeschke mit seinem Handbuch zu Hegel.) Im Vorgriff darauf wurde sicherheitshalber der Untertitel das Handbuchs korrigiert. Weist das Nietzsche-Handbuch von Henning Ottmann noch richtig "Leben - Werk - Wirkung" aus (was auf das Heidegger-Handbuch von Dieter Thomä mit dem gleichen Untertitel nur noch begrenzt zutrifft), nennt sich das Handbuch zu Kant von Gerd Irrlitz nur noch eines zu "Leben und Werk", da die Rezeptionsverläufe vom Herausgeber weder überblickt werden, noch der Status seiner eigenen Darstellung erkannt wird, der selbst nur einer der Rezeption sein kann.

Nun also "Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers". Dies ist jedoch der Untertitel, eigentlich heißt das Buch "Kultur und Symbol", was wahrscheinlich den potenziellen Kundenkreis erweitern soll. Eine Gruppe also, von der man erwartet, sie schätze das Wort "Kultur" als tragfähigen Begriff, der einen Gegenstandsbereich identifiziert, welchen jene wiederum als exklusiven Gegenstand ihrer Wissenschaft behandeln kann. Vielleicht ließe sich Gleiches über das Stichwort "Symbol" sagen. Der Untertitel muss nun nicht nur die Gruppe all jener enttäuschen, die sich gerade durch das Stichwort haben locken lassen, sondern auch diejenigen, die sich für Cassirer interessieren, insofern das Handbuch offensichtlich nicht das Ziel hat, Cassirers Philosophie sowohl flächendeckend als auch systematisch zu behandeln. Zugleich muss man befürchten, dass Biografie und Rezeption eine nur geringe Rolle spielen oder letztere im schlimmsten Fall diejenige Rolle einnimmt, die ihr im Kant-Handbuch zukommt. Die weitgehende Zurücknahme des Anspruchs auf umfassende Behandlung wird noch unterstrichen durch das abweichende, leicht kleinere Format, in dem Metzler ansonsten Werkausgaben oder Monographien erscheinen lässt. Auch das teilweise verzogene Druckbild stuft das Buch gegenüber den offiziellen Handbüchern herab.

Werden die Befürchtungen bestätigt? Leider jein, muss man sagen, denn ein klares Urteil wird durch die Undurchsichtigkeit des inhaltlichen Aufbaus nahezu verunmöglicht. Wären alle Artikel nur Interpretationen, die ein lebender Autor einem toten Autor zuteil werden lässt, könnte man sagen, das Buch lohnt sich auf ganzer Linie nicht zu lesen, ist schlicht Irreführung des Käufers und hat ein ganz anderes Zielpublikum. Manche Artikel bemühen sich aber tatsächlich, die Idee eines Handbuches nicht gänzlich aus dem Auge zu verlieren, während andere davon eher unbeeindruckt bleiben.

Grundsätzlich aber gilt: Das Handbuch ist ungeeignet zum direkten Nachschlagen, sei es, um sich einen Vorbegriff zu machen, sei es, um schnell an Informationen zum eigenständigen Weiterforschen zu kommen. Statt präziser Abgrenzungen einzelner Begriffe, die in einer Stichwortabteilung hätten zusammengetragen werden können, werden nur weitläufige Themengebiete abgearbeitet, die zwar alle irgendeine Rolle im Denken Cassirers spielten, ihn aber von anderen Philosophen seiner oder auch unserer Zeit in keiner Weise abheben: Psychologie, Mathematik, Symbol, Technik, Erkenntnistheorie, Philosophiegeschichte, systematische Philosophie, Sprache, Ethik.

Die teils 40 Seiten umfassenden Aufsätze werden nur unterbrochen von Versuchen des Crossover - ein einzelner Artikel zum Gesamtkomplex "Kulturphilosophie, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft" - oder vorgelagerten Nachworten der Herausgeber, getarnt als eigenständiges Themenfeld. So ist das Zwischenresümee von Hans Jörg Sandkühler, der selbst zwei und einen halben Beitrag beigesteuert hat, dessen Sicht auf die Philosophielandschaft vor und während des Zweiten Weltkrieges, die sich hervorragend als Einführung zur überfälligen Taschenbuchausgabe der "Philosophie der symbolischen Formen" eignen würde. - Hier ist sie jedoch fehl am Platz.

Was ist das Buch also? - Es ist Ertrag der mehrjährigen Arbeit einzelner Wissenschaftler der Universitäten Bremen und Groningen, die zu einer "Theorie der Repräsentation" arbeiteten und sich im Umfeld der Neuausgabe der Schriften ("Hamburger Ausgabe") sowie der Erschließung des Nachlasses (beide Verlag Meiner) zu Cassirer informierten, auf ihren Treffen austauschten und die schriftlichen Fassungen ihrer Beiträge nach den geltenden Editionen zitierten. Sie sind fast allesamt nicht nur auf dem Gebiet der Cassirer-Forschung ausgewiesene Experten ihres Faches, einige von ihnen haben zudem das Ansehen der Philosophie und Wissenschaftsgeschichte in Zeiten der Austreibung des Geistes aus den Wissenschaften nachhaltig gemehrt.

Doch dies macht eine Textsammlung nicht zum Handbuch, sondern zu einer "umfassenden Studie", wie es in der Vorbemerkung bekennend heißt. Durch die Nähe zur Edition haben sich einige Autoren in einen wahren Zitationsrausch hineingesteigert, so dass man stellenweise eher eine Art Materialsammlung vor sich hat, die sich jeder, der die zu den ersten 13 Bänden der Hamburger Ausgabe erschienene CD-ROM benutzen kann, leicht hätte selbst zusammenstellen können. Ein Zitat, das den Umfang von zehn Zeilen im Kleindruck weit überschreitet, kann man nicht mit drei Sätzen kommentieren und dann zum nächsten Zitat übergehen, dabei unterstellend, das Wesentliche stehe in den drei eigenen Sätzen oder dem zitierten Passus. Ist Ersteres der Fall, braucht man das Zitat nicht, ist Zweiteres der Fall, braucht man das Handbuch nicht.

Von einem Handbuch erwartet man ferner zu jedem Thema eine Aufstellung der Primär- und Sekundärliteratur, aus der hervorgeht, wie wann welche Schriften eines Autors vorlagen, wie Cassirer zu seiner Zeit wahrgenommen wurde (und das heißt: welche Rolle er tatsächlich gespielt hat), welche gegenwärtigen Monographien und Fachaufsätze zu lesen sind, wenn man sich vertiefend mit einem einzelnen Thema auseinander setzen möchte. Je nach Beitrag sind einige dieser Informationen an irgendeiner Stelle im Text erkennbar eingearbeitet, andere in anderen nicht usw. Stattdessen wird die gesamte Sekundärliteratur, die in den Texten in Kurzform zitiert wird, unterschiedslos am Ende des Bandes aufgeführt. Einzig die Listung aller Erstausgaben erinnert an die Absicht eines Handbuches, müsste aber mittlerweile eigentlich Standard jeder autorzentrierten Dissertation sein. - Soll man also unter der Hand zu der Überzeugung gebracht werden, die versammelten Beiträge seien schlicht selbst die beste derzeit verfügbare Literatur zum jeweiligen Thema?

Unter dem Strich hat der Leser damit also selbst jene Arbeit vor sich, welche weder die Arbeitsgruppe und die Herausgeber geleistet haben, nämlich: ein System in die Sache zu bringen. (Auch die Einleitung, welche aus Abstracts der einzelnen Beiträge besteht, kann die fehlende Systematik nicht ersetzen.) Das vorliegende Buch ist der Rechenschaftsbericht einer Gruppe von Forschern, die ihrem Thema entsprechend gründlich gearbeitet haben, wobei aber jeder wieder von Neuem anhebt und einen je eigenen Einstieg in (den 'ganzen') Cassirer wählt. Man hätte durchaus versuchen können, das Vorgehen mit dem Anspruch des Handbuches zu versöhnen, und die Legitimation darin zu finden, dass man die Art und Weise, wie Cassirer forschte und schrieb, nicht anhand von einzelnen Stichworten, sondern immer nur in Perspektiven auf das Ganze 'darstellen' kann. Dies hätte jedoch eine Reflexion auf die Konzeption erfordert und vor allem eine stärkere Vernetzung der Beiträge untereinander.

Dem von außerhalb hinzugezogenen Karl-Norbert Ihmig, der mit einer Arbeit zu Cassirers mathematischem Denken habilitierte und bereits in seiner Dissertation zur Aufnahme Newtons durch Hegel unter Beweis stellte, dass er es wie wenig andere vermag, die Übertragungen zwischen den Wissenskulturen zu denken, oblag es, die Ergebnisse seiner Cassirer-Forschung beizusteuern. Es sollte damit eine sichtliche Leerstelle der Gruppenarbeit - Cassirer als "scientist" - füllen helfen. Die hausgemachte Gettoisierung der Geisteswissenschaften wird hier also auf der Gliederungsebene fortgeschrieben. Nur so kann es zu der unglaublichen Konstellation kommen, in der Ihmigs Beitrag zusammen mit demjenigen über Cassirers biologische Erwägungen schlicht das Gesamtthema "Die Wissenschaft" (sic!) ausmachen soll.

Ungeachtet des Umstands, dass "Biologie", insofern sie für Cassirer wirklich eine Rolle spielte, eigentlich Uexküll - also dem damals herausragenden Populisten des Biologischen und Begründer einer 'Biosemiotik' - und andere Vitalisten an der Grenze zur Esoterik respektive mit späterem NSDAP-Parteibuch oder schlicht die Biologie in ihren naiven, gleichfalls experimentellen Anfängen bei Goethe meint, trennen Mathematik und Biologie zu Cassirers Zeit nicht weniger als heute Welten. Zumindest ist jenes unter "Biologie" abgehandelte Denken eher "Philosophie" im schlechten Sinne, denn "Wissenschaft" im positiven Sinne. Umgekehrt ist Mathematik keine Erfahrungswissenschaft und also schon deshalb nicht mit der Biologie derart gleichzustellen. "Mathematik" meint bei Cassirer, von Kant ausgehend, die Diskussion der apriorischen Möglichkeit von Geometrie und Physik, also 'Grundlagenforschung'. (Nebenbei: Die bei Cassirer vorausgesetzte Historisierung der Anschauungsformen von Zeit, aber vor allem von Raum im Sinne symbolischer Welterzeugung - worin auch mathematische Symbolisierungen nach Cassirer ihren Ort haben - wird in den entsprechenden Beiträgen zum Mythos regelrecht ignoriert.)

Ein von Sandkühler abermals vorausgeschicktes, internes Vorwort zu jenem Abschnitt (seinerseits eigentlich die Zusammenfassung seines im Band enthaltenen Aufsatzes zur Erkenntnistheorie Cassirers) behandelt einen wiederum ganz anderen Aspekt: Cassirer als Wissenschaftstheoretiker. Die versuchte Einhegung des Gebietes ist umso grotesker, als im Hinblick auf den Universalgelehrten Cassirer Wissenschaft entweder im Plural gedacht werden muss oder sich jede andere Grenzziehung im Handbuch gleich miterledigt.

Die Gruppe hat mit ihrer aus Eigenmitteln finanzierten Publikation die Liste der Texte zur Cassirerforschung erweitert, dabei aber vor allem das Thema bearbeitet, in dessen Namen sie sich einst versammelt hatten: die Theorie der Repräsentation. (Wobei viele der Autoren 'Repräsentation' nur eingeschränkt im Sinne der Semiotik begreifen.) Spätestens wenn die ersten Abschnitte aus dem "Handbuch" als Einzeltitel zitiert werden, wird die Täuschung aufgeflogen sein. Der Verlag sollte aufpassen, das Profil einer Textgattung nicht weiter zu verwässern, was einer Einladung zum Missbrauch gleichkommt und eine weit größere Gefährdung eines seiner wesentlichen Standbeine bedeutet als der stolze Preis der Handbücher.

Titelbild

Hans Jörg Sandkühler / Torsten Pätzold (Hg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2003.
336 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-10: 3476019748

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