Tod eines Unzeitgemäßen

Abschied von Lothar Baier (1942-2004)

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Irgendwann im Laufe des 11. Juli 2004 setzte Lothar Baier in seiner Wohnung in Montreal seinem Leben ein vorzeitiges Ende, und für kurze Zeit kehrte ein verfrüht ins Totenreich deportierter Intellektueller noch einmal in die Spalten des deutschen Feuilletons zurück. Allenthalben war das schlechte Gewissen im Olymp anzutreffen, während auf den Fluren die Geschäftigkeit dominierte.

Als Leser habe ich Lothar Baier sehr viel zu verdanken. Unbekannterweise begegnete er mir erstmals in den frühen siebziger Jahren, als ich die Fischer-Taschenbuch-Ausgaben der Romane Jules Vernes verschlang, die Baier teilweise mit übersetzt hatte. Ende der siebziger Jahre fiel mir eine großformatige Literaturzeitschrift namens "Lesezeichen", in der auch Lothar Baier publizierte, in die Hände, doch war sie wohl eines jener Projekte, die keinen ökonomischen Erfolg zeitigten. Zu jener Zeit übersetzte Baier auch Texte André Bretons, die frühen literarischen Schriften Jean-Paul Sartres und die Werke Paul Nizans.

Und dann waren es die Essays oder "Aufsätze" (wie Baier seine Arbeiten nannte), welche die politische und kulturelle Gegenwart einer kritischen Bestandsaufnahme unterzogen, die mich stets aufs Neue mit ihrer intellektuellen Unbestechlichkeit und sprachlichen Klarheit faszinierten. Als Nachgeborenen der so genannten 68er riss mich Baier mit seiner Melange aus Leidenschaft und Ernüchterung in seinen Bann, mit der er die ergraute neue Linke im Büßerhemd betrachtete, während er sich ihren umfunktionierten Avantgarden auf ihrem Marsch durch die Institutionen zunehmend entfremdete. Darin war er Russell Jacoby jenseits des Atlantiks ähnlich. Was mittlerweile eine indiskutable Minderheitenposition ist, die den Urheber ins politische wie ins gesellschaftliche Abseits befördert, ließ sich in den achtziger Jahren in einer halbwegs funktionierenden Öffentlichkeit noch artikulieren, so dass Baier sowohl in liberalen Zeitungen wie "Süddeutsche Zeitung" und "Frankfurter Rundschau" als auch in Kulturzeitschriften wie "Merkur", "Kursbuch" und "Freibeuter" auftauchte, und manchmal verlor er sich auch in die Seiten von "konkret".

In diesen Jahren gab Klaus Wagenbach das Terrain für eine Reorientierung der Linken frei, doch kulminierte das vorgeblich neue Denken schließlich in der Annäherung ehemaliger Autonomer wie Thomas Schmid an die Fleischtöpfe der Renegaten-Presse oder in der bruchlosen Angleichung einstiger totalitärer Mundstücke aus dem Bockenheimer Abschnitt der Weltrevolution an den bürokratischen Apparat rosa-olivgrüner Prägung. Noch in der eigenen Lobhudelei zum vierzigjährigen Bestehen seines Verlages ("Warum so verlegen? Über die Lust an Büchern und ihre Zukunft") verliert der Verleger selbst zwanzig Jahre später kein kritisches Wort über das Misslingen dieses Unterfangens. In Projekten wie "Die Linke neu denken!" oder "Die Früchte der Revolte", an denen Baier mitwirkte, schien er fehl am Platz, denn mit der "libertär" gestylten Einbettung von der Geschichte ausgemusterter Intellektueller ins Lager der Klientelpolitiker und Unterhaltungsbarden (der postmodernen Form der Prostitution) hatte er nichts gemein.

Nach der so genannten Wende wurde für ihn die Luft in der deutschen Öffentlichkeit zunehmend dünner. Schon die Texte, die 1993 unter dem Titel "Die verleugnete Utopie" auf Vermittlung Christoph Heins im Aufbau-Verlag erschienen, entstanden im Abseits. Während der "Kaiser" 1990 fabulierte, dass "Deutschland" nun auf Jahre hin unschlagbar sei, bewahrte sich Baier seinen kritischen Blick, der im nationalen und ökonomischen Rausch der Majorität verdächtig erschien.

Im bewegenden Nachruf auf seinen Freund beschreibt Wolfram Schütte Baier zuletzt als "illusionslos, aber nicht zynisch, sondern nur abgrundtief traurig". Schließlich hatte er nirgendwo einen Platz. Hämisch erledigt ihn das neoliberale Kampfblatt "Neue Zürcher Zeitung", um alte Rechnungen zu begleichen, als Gescheiterten und Versager, der "es nie zu einem arrivierten Dasein brachte", während arrivierte Intellektuelle wie Hans Magnus Enzensberger und Peter Schneider als Parodien ihrer selbst im "Spiegel" und seiner Online-Version des "Boulevard des Crimes" fortwesen. "Lothar Baier, der zuletzt erklärte, kein Buch mehr schreiben zu können, starb", gibt der Nachtreter, dem Baiers strikter Antikapitalismus noch immer bitter aufstößt, zu Protokoll, "wie wir vermuten müssen, als politisch einsamer, der Gegenwart entfremdeter Mann". Angesichts solcher Zeitgenossen fällt die Entscheidung für ein Abspringen umso leichter.

So schmerzlich der Verlust dieses Intellektuellen, der beispielhaft moralische Integrität und intellektuelle Redlichkeit verkörperte, für die Zurückgelassenen ist, so nachvollziehbar ist doch seine Entscheidung, nach einem jahrzehntelangen Kampf gegen ideologische Windmühlen und auch persönlichen Katastrophen die Entscheidung zu treffen, nicht länger den Getretenen in der Mühle zu geben. Noch im oberflächlichen Akt der Resignation schwingt eine Revolte mit. Während andere stets immer noch aus falschen Gründen kollaborieren, legte Baier Hand an sich (wie Jean Améry sagte) und zog einen Schlussstrich. Daher liegt das Porträt Baiers, wie es der linke Verleger Klaus Bittermann in der "Jungen Welt" zeichnet, vollkommen neben der Realität: Er nahm "den unscheinbaren Lothar Baier" als verarmt und verzweifelt wahr, wenn auch als einen der letzten großen Essayisten, der nicht bereit war, "sich dem Einheitsjournalismus anzupassen".

In Deutschland fand Baier letztlich nur noch Zuflucht in der kleinen, linken, von Günter Gaus mitbegründeten Wochenzeitung "Freitag", während der Medienbetrieb von Zeitgeistschranzen bestimmt wird, die auch nur Chiffren der Herrschaft sind. Letztlich können in der miserablen Welt nur die Miserablen reüssieren. "Das Leben, das ich akzeptiere, ist das schrecklichste Argument gegen mich selbst", schrieb der französische Schriftsteller René Crevel, der sich 1935 das Leben nahm. Während Rechte wie Linke Baier als Unzeitgemäßen schon vor Jahren in die intellektuelle Leichenhalle abschoben, blieb er noch in seinem letzten Akt auf der Höhe der Zeit. Und über ihn lässt sich das Gleiche sagen, was er Christoph Hein zum 60. Geburtstag schrieb: "Nicht nur ein guter Schriftsteller [...], sondern auch, wie man französisch sagt, une bonne personne."