Vom Eros des Erkennens und Verstehens

Die Neuauflage der österreichischen Klassikerin Inge Merkel

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zypressen wie die drei auf dem Schutzumschlag lassen sich vor toskanischen Friedhöfen finden; und der Friedhofserde abgerungen sind die drei Erzählungen, die der neu aufgelegte Band einer zeitgenössischen und zeitlos klassischen Österreicherin enthält: "als hätte sie Lebendiges unter schwarzen Zypressen verscharrt", wird darin die Scheu der Autorin vor der Endgültigkeit, die allem Geschriebenen innewohne, erklärt:

In der dritten Erzählung, die der 1983 zur Publikation zusammengestellte Band enthält, hat Inge Merkel das Fazit eines Leselebens gezogen. Es hatte damit begonnen, dass vierzig Jahre davor bewunderten Menschen briefliche Geständnisse ins Grab gelegt worden waren. Vier weitere Romane folgten auf das Wagnis der Veröffentlichung von "Das andere Gesicht" (1982).

Als Inge Merkel als 60-Jährige endlich zu schreiben begann, konnte sie bereits auf einen vier Jahrzehnte währenden Respekt im Umgang mit dem geschriebenen Wort zurückblicken: Nach ihrer Matura im Krieg widmete sich die Wienerin der Literatur, Geschichte und Altphilologie, versah Dienst an der Universität und einem Gymnasium. Die Haltung, die sich dabei geformt hat, spricht aus ihren Romanen "Das andere Gesicht", "Die letzte Posaune", "Das große Spektakel", "Eine ganz gewöhnliche Ehe", "Sie kam zu König Salomo" und der jetzt neu aufgelegten frühen Erzählsammlung "Zypressen".

Ihr Debüt, der komisch-weise Briefwechsel mit irdischem Annäherungsverbot zwischen zwei Geistesverwandten, einem älteren jüdischen Herrn und einer pensionierten Altphilologin, galt 1982 als die literarische Entdeckung und wurde mit renommierten Preisen ausgezeichnet. Mit dem Odysseus-und-Penelope-Roman "Eine ganz gewöhnliche Ehe" (1987), bei Fischer als Taschenbuch erhältlich, machte sich die Autorin auch in Deutschland als souveräne Nachgestalterin des Odysseus-Stoffes einen Namen.

Während die beiden ersten Erzählungen der "Zypressen", "Der Mentor" und "Jüdische Sappho" in einem Stefan-Zweig-ähnlichen Rahmen Vergangenes erinnern, nämlich aus den Lehrjahren einer jungen Philologin erzählen, die von zwei bewunderten Menschen auf verwirrende Weise lernt, was es heißt, streng und gehorsam sein Leben dem Verstehen des Bewunderten zu widmen, schildert "Pygmalion" den erschöpften Seelenzustand einer spätberufenen Autorin, die sich nach Abschluss ihres ersten Romans auf einer Amerikareise mit Alter und Tod, vor allem aber mit dem Verhältnis des Demiurgen zu seinem Geschöpf, auseinandersetzt. Wie schön ist zu lesen, was Merkel danach noch alles schrieb.

Zwei Dinge sind es, die in Inge Merkels Werk auffallen: Das eine ist das Thema des Eros Phanes, der in den Bann des Erkennen- und Verstehenwollens zieht, das andere ihre Sprache, der ein unverwechselbarer Duktus eignet. Unschwer lässt sich in ihrer Metrik das Nahverhältnis zur antiken Epik erkennen. Im Deutschen äußert sich dieser Hang darin, dass Inge Merkels Prosa selbst an den schnippischsten Stellen, in denen die Protagonistin ihr Mundwerk zum Besten gibt, im Zaum derselben Harmonie bleibt, der an den philosophischen Stellen fließend Ausgeglichenheit verströmt, etwa indem nachgestellte Appositionen Merkels Syntagmen in Schwung halten, formale Pendants zu den heißen Wangen des Eifers ihrer wissbegierigen Protagonistinnen.

Wenn auch den ersten beiden Geschichten der "Zypressen" diesem unverwechselbaren Merkel-Stil noch etwas anhaftete, was sie an der Titelfigur von "Jüdische Sappho" als ein wenig eitles Übertreiben des Behäbigtuns beschreibt - spätestens im Penelope-Roman "Eine ganz gewöhnliche Ehe" hat sich das elegisch Schleppende verloren. Merkels großartiges Talent entfaltet sich vor allem dort, wo geschrieben und geantwortet, widersprochen und nachadjustiert wird.

In ihrem lebenslangen Gespräch hätte sie in den russischen Dichtern Mandelstam und Brodsky Verbündete gefunden, was das Bekenntnis zum Hellenismus und zur mittelmeerischen Weltkultur betrifft. Den gebürtigen Wiener Martin Buber hätte Merkels Verwirklichung des Dialogischen begeistert, die zutiefst christlich ist, wenngleich sich die Schreibende so gern eine Jüngerin der Gaia, Kybele oder Magna Mater nennt.

Denn Inge Merkels Protagonistinnen denken nie für sich; sie müssen sich an ihrem Komplementär abstoßen - in Geschlecht, Glaubensbekenntnis und Erklärung der Welt. So sind es meist Frau und Mann, aufgeklärter Jude und Heidenchristin, Begeisterte und Skeptiker, die sich in (brieflichen) Gesprächen austauschen - zutiefst fruchtbar. Nicht die Sehnsucht nach dem Habenwollen, sondern der Drang nach dem Gefallenwollen zeichnet den Schüler aus. Die "Zypressen" zeigen, was es bedeutet, Vorbilder - und seien sie selbst erschaffen - zu überleben. Inge Merkel schreibt über die Etappen des Lernens und die lebenslange Suche nach Lehrern. Sie hatte das große Glück, immer wieder Mentor(inn)en zu treffen, als zu Formende erkannt, geliebt und wahr genommen zu werden, und den Vorteil, als lebenskluge und heitere Tochter ihrer Mutter immer zu wissen, was es für die Frau schwieriger macht, solche Menschen zu (er-)finden, als für den musengespornten Mann.

Inge Merkel ist darum eine Frauenschriftstellerin der größeren Dimension. Keine ihrer Landsmänninnen Fussenegger, Bachmann, Lavant, Aichinger, Fritz und Mayröcker hat sich dem Problem des Frauseins als Künstlerin derart gestellt wie sie. Man wird Inge Merkel dafür nicht lieben, denn sie spricht nicht von Unrecht und Revolte, Selbstverwirklichung oder Gleichberechtigung, sondern von Demut und Geduld angesichts der Schöpfung und aller Schöpfungen, denen man umso mehr Würde erweist, je genauer man hinschaut, versteht, formuliert.

Titelbild

Inge Merkel: Zypressen. Drei Erzählungen.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2004.
152 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-10: 3902144815

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