Segnet mich, Reste meiner Heimat!

Vor 50 Jahren starb Norbert Jacques, der bis heute populärste Vertreter Luxemburger Literatur

Von Oliver RufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Ruf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hoch auf den Felsen sah er die Stadt, die sein Vaterhaus trägt. Süß und lieblich in ihrer Silhouette. Das war ein schöner Anblick und eine Wohltat, verglichen mit den Begegnungen, die er jetzt macht, während die Straße staubt und der Reisende langsamer werden muss, bis er still steht, um besser zu sehen. Jugendfreunde schauen ihn an, betroffen ob des Fremden, und erkennen ihn bald, wenden sich ab, denn sie wissen um seinen Affront. Dass er sich einst öffentlich gegen das Land wandte. Mit Äußerungen, die der Neutralitätspflicht des Staates zuwider liefen, wo sie darum sagten: "Wir protestieren energisch dagegen, dass jemand, der weder innerlich, noch äußerlich, mehr den Namen Luxemburger verdient, als solcher herumreist und uns alle miteinander in Verruf bringt ..." Ihre Augen verlieren die Neugierde, und zwischen ihnen und ihm steigt kalter Rauch auf. Sie gehen vorbei, ohne zu grüßen. Aus seinen Schritten auf dem Pflaster der Gassen hallt später das Wort "Verräter!" zurück.

Norbert Jacques denkt an die Verachtung für ihn, den Sohn der Stadt, womöglich denkt er an seine Jugend, in der er schnell mit der Heimat haderte und mit 21 Jahren heimlich nach Deutschland reiste. Die innere Unruhe hatte ihn, der am 6. Juni 1880 in Eich geboren wurde, in die Welt getrieben. In den nächsten fünf Jahrzehnten wird er sie bereisen, besessen von Ferne und Fremde. Seinem Vaterland wird er sich nur noch selten nähern, zumeist schriftstellerisch. Der groß gewachsene Mann, den ein gleichermaßen impulsiver wie sensibler Charakter auszeichnet, findet sein erstes literarisches Ideal in der romantischen Dichtung, bei Eichendorff, Brentano, Novalis. Erst als 17-Jähriger versucht er sich an Gedichten: "- - - Und die Reue tief im Herzen, / Geh' ich weiter durch die Dünen, / Alte, alte Lebenssünden, / Still mit mir allein zu sühnen." Frühe Prosatexte folgen und eine Reihe von Lebensstationen: Bonn, Beuthen, Berlin, Bodensee.

Begründer des Exotismus

In Bonn bricht er das Studium ab und seine Eltern die Zahlungen. Er wird Journalist und tritt in die Redaktion der "Oberschlesischen Landeszeitung" in Beuthen ein. Da lernt er das Schreiben bei Gerichtsreportagen und Feuilletons. Die "Frankfurter Zeitung" stellt Jacques, der mit umstrittenen Artikeln von sich reden macht, als Berliner Korrespondenten ein, trennt sich jedoch schnell wieder von ihm. Dem Ziel, sich voll und ganz dem Schreiben zu widmen, kommt er trotzdem näher. Er lässt sich am Bodensee nieder. Der erste Roman, der nicht gedruckt wurde, erzählt die Geschichte eines Knaben, der Schule, Eltern und Luxemburg verlässt, auf der Suche nach einem neuen Anfang.

Jacques' Zukunftsaussichten bessern sich. Dank Talent und hemmungsloser Vielschreiberei ist er mittlerweile regelmäßig für verschiedene Zeitungen als Reporter tätig. Mit dem Vater kann er sich aussöhnen. Die eigene literarische Produktion wächst beständig. Allerhand Kurzgeschichten werden verfasst und Novellen. Der Durchbruch zum Berufsschriftsteller lässt nicht lange auf sich warten. Im renommierten S. Fischer-Verlag erscheint 1909 eine Erzählung, ein Jahr darauf das Buch "Der Hafen", dessen Inhalt nicht weiter überrascht: Der luxemburgische Kaufmannsohn Baptist Biver flüchtet aus dem Elternhaus, bringt sich im Ausland mehr schlecht denn recht als Primgeiger durch, reist nach Amerika, verzweifelt entwurzelt, findet seinen "Hafen" im Gedanken an das deutsche Volk, dem er von nun an zugehören will. Es sind Schlüsselszenen in diesem Roman, spiegelt er doch auffallend Jacques' gespanntes Verhältnis zur eigenen Herkunft. Blasiertheit und Standesdünkel erscheinen darin als Mentalität des Ländchens. Jacques bedient damit persönliche Ressentiments, Vorurteile provinzieller Natur, straft dadurch literarisch die fehlende Anerkennung seines Werkes in Luxemburg, auf die er vergebens hofft. In dem Konflikt der Luxemburger Intelligenz, zwischen heimatbewusster, frankophiler und eingedeutschter Identität, entscheidet sich Jacques für letztere. In Deutschland wird er akzeptiert. Deren Dichter und Denker faszinieren ihn. Mit dem "Hafen" gewinnt er ein deutsches Leserpublikum.

An diesem Roman zeigt sich Jacques' Vorliebe transkontinentaler Schauplätze. Prosaische Stoffe schöpft er früh aus eigenen Erlebnissen, wie etwa 1907, als er über Lissabon und Funchal nach Rio de Janeiro reist. Oder als er im Spätsommer 1912 eine Weltreise unternimmt. Die Scheidung von der Schauspielerin Olga Hübner ermöglicht ihm nämlich die Heirat Margerite Samuelys und eine lange Hochzeitsreise, eine Expedition um den gesamten Globus. Die tropische Ferne bleibt Jacques' Leidenschaft, das Reisen bisweilen sein Daseinsziel: "Dichterisch unmittelbar kann der Mensch seine neue Zeit im Reisen erleben." Ein Brasilienbuch entsteht. Die "Heißen Städte" beschreiben, episch und idealisiert, exotische Staffagen. Norbert Jacques' Dichtung kennzeichnet ein beinahe manischer Hang für absonderliche, von der Norm abweichende Welten. Sein erster großer Leseerfolg wird 1917 "Piraths Insel", ein Südseezauber, erratisch, in kolonialer Kulisse - die Geschichte des Ingenieurs und Erben einer Kokosfettfabrik Peter Pirath in einer mythisch-archaischen Gesellschaft. Mit solchen antizivilisatorischen Stoffbereichen begründet Jacques (mit anderen Schriftstellern wie Willy Seidel und Dauthendey) eine zeitgenössische Tendenz deutschsprachiger Literatur. "Piraths Insel" zählt zu den bedeutendsten Werken des neuen literarischen Exotismus.

Aufstieg und Fall des Dr. Mabuse

Wenn er auch zwischenzeitlich das Landleben glorifiziert, zum Beispiel in seinem Roman "Landmann Hal" (1919), so wendet sich Jacques Anfang der Zwanziger Jahre wieder ungewöhnlicheren Motiven zu. Es wird, zunächst als Vorabdruck in der "Berliner Illustrierten", dann als Ullstein-Buch jener Kriminalroman veröffentlicht, der ihn zeitlebens berühmt macht: "Dr. Mabuse, der Spieler". Auf einer Dampferfahrt nach Konstanz bemerkt Jacques dicht an der Reling einen Herrn sitzen "mit der unverkenntlichen Gebärde, sich von der Umwelt hochmütig abzusondern". Jacques überlegt, wer dieser Mann nur sei, der inmitten "quecksilbriger Schiffsgesellschaft" verharrt, dessen Gesichtszüge zu einem Ausdruck der Missachtung und Abweisung eingefroren sind. Held? Oder Verbrecher? Aus der flüchtigen Begegnung auf dem Vorderdeck entsteht die fiktive Seelenstudie eines skrupellosen Nervenarztes, ein böser Kerl, von Herrschsucht zerfressen, genial obendrein: Mabuse will im brasilianischen Urwald ein Kaiserreich errichten, sein Eitopomar, und er verschafft sich die nötigen finanziellen Mittel durch Schmuggel, Mädchenhandel und Glücksspiel. Weil er die Leute im Kasino per Hypnose ausnimmt, wird Staatsanwalt Wenk auf die Vorfälle aufmerksam und sein erbitterter Gegner. Beide Protagonisten lieben zudem die selbe Frau. Mabuse kidnappt letztendlich Gräfin Told und macht sie seinem diabolischen Willen untertan. Doch Wenk setzt alles daran, dem teuflischen Treiben im finalen Showdown ein Ende zu bereiten.

Innerhalb eines Jahres werden 110.000 Exemplare des Romans verkauft. Fritz Lang, der Regisseur, kann ihn nach einem Drehbuch von Thea von Harbou international erfolgreich verfilmen. Allerdings beginnt mit "Dr. Mabuse" der künstlerische Abstieg des Norbert Jacques. Während vorangegangene Bücher im Kontext der historischen Avantgarde stehen und von der jungen Schriftstellergeneration zum Teil emphatisch aufgenommen werden, schreibt er nun Unterhaltungsliteratur. Das technische Zeitalter hatte Jacques vormals in seinem Werk begrüßt und war damit in die Nähe des italienischen Futurismus gerückt - jetzt nimmt er sich fast ausschließlich dem Krimi-Genre an. Mit den Vertretern des literarischen Expressionismus verbindet ihn im Allgemeinen die Sympathie für Vitalismus und Menschheitspathos. Nobert Jacques ist auch im "Dr. Mabuse" Expressionist, zumindest dem Erleben nach, obwohl er gleichzeitig Expressionistenschelte betreibt, indem er gegen Vertreter dieser Kunstrichtung ausdrücklich polemisiert - ein böses Omen, denn der Roman wird sein ästhetisches Verhängnis.

Norbert Jacques trennt sich von S. Fischer, da der Verlag eine Buchausgabe des "Mabuse" ablehnt. Er wird ein Illustrierten-Autor. Der ambitionierte Romancier degeneriert zum anspruchslosen Amüsementschriftsteller. Erotische Beziehungen werden Gegenstand der Darstellung, Kriminalgeschichten häufen sich: Machthungrige Gangsterbosse, angetrieben von krimineller Energie, kämpfen mit gänzlich guten Widersachern nicht selten um die Gunst einer schönen Frau, um Leben und Tod im Fluidum der Fremde. Abenteuerhandlungen wiederholen Stereotype: Schatzsuchermotive, Gruseleffekte, Detektiv-Aktionen. Hauptpersonen werden standardisiert: Schurken, Abenteurer, Grandseigneurs und - attraktive Urwalddamen. Solche Bücher garantieren auf ihre Weise kommerziellen Massenkonsum. Große Literatur sind sie beileibe nicht.

Geächteter, Mensch und Künstler

Bleibt sein Verhalten in den Weltkriegen. 1914 meldet er sich freiwillig zum Kriegsdienst - wie viele Intellektuelle es damals taten, erinnert sei nur an Thomas Manns "Gedanken zum Krieg": "Wie die Herzen der Dichter sogleich in Flammen standen, als jetzt Krieg wurde! [...] Es war Reinigung, Befreiung, was wir empfanden, und eine ungeheure Hoffnung." Als Ausländer wird Jacques abgelehnt. Für den Dienst an der Waffe kommt er für die Behörden ebenso wenig in Frage wie für das Spionieren im Auftrag der deutschen Armee, was er ebenfalls anbietet. Unabhängig davon kann er als Kriegsjournalist von der Front berichten. Diese Texte enthalten massiv deutsch-imperialistische Apologie. Bei der Kriegsberichterstattung benutzt er sogar einen falschen luxemburgischen Pass.

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges - Jacques wird von den nationalsozialistischen Agitatoren schikaniert, in Leipzig hat man eines seiner Bücher verbrannt, Freunde werden willkürlich verhaftet, Ehefrau und Schwägerin müssen wegen ihrer jüdischen Abstammung fliehen - weigert er sich hartnäckig zu emigrieren. Der "faschistische Fluch" werde schon vorübergehen. Er schreibt leichte Literatur, lebt von Drehbüchern, entdeckt historische Romane als Metier. Damit liegt er wiederum im Trend der Zeit. Bemerkenswert belletristisch gestaltet Jacques in diesem Zusammenhang Friedrich Schillers Württemberger Aufenthalt in dem Roman "Leidenschaft" (1939). Dann ändert sich sein Verhältnis zum Nationalsozialismus. Eine Gestapo-Verhaftung und der sich anschließende zweieinhalbwöchige Gefängnisaufenthalt erzielen die entsprechende Wirkung. Norbert Jacques arrangiert sich. Er reicht die Scheidung ein, ehelicht eine 24-Jährige. Er erwägt nach Eingliederung Luxemburgs in das Deutsche Reich die Rückkehr. Er akzeptiert Auftritte bei der dortigen, von den Nationalsozialisten gleichgeschalteten "Gesellschaft für Literatur und Kunst". Zwar sympathisiert er keineswegs mit dem faschistischen Regime, doch kollaboriert er in Luxemburg mit deren Machthabern. In Deutschland spricht er sich mehr oder weniger offiziell für die Annexion seiner Heimat aus und muss - nach Kriegsende - die Konsequenzen ertragen. Böswillige und meist völlig haltlose Denunziationen bei der französischen Militärpolizei bewirken Inhaftierungen. Nach insgesamt fünf Monaten im Konzentrationslager Reutin wird er als Untersuchungsgefangener nach Luxemburg überstellt, wo ihm wegen Landesverrats der Prozess gemacht werden soll. Ein luxemburgisches Sondergericht kann mit ihm wenig anfangen. Ohne offizielle Anklage wird er des Landes verwiesen.

Aus dem öffentlichen Bewusstsein Luxemburgs verdrängt man ihn seit beiden Weltkriegen systematisch, ächtet ihn als Mensch und Künstler. Jacques sieht letzten Endes darüber hinweg. In einem Zeitungsbeitrag nimmt er 1949 Abstand von ehemaligen Standpunkten. Der Text trägt den Titel "Luxemburg den Luxemburgern". Seine Autobiografie "Mit Lust gelebt" (1950) lässt schließlich einige Male Verständnis für Land und Leute erkennen. Vier Jahre nach dieser Veröffentlichung unternimmt der 74-Jährige eine Fahrt nach Traben-Trarbach an der Mosel. Der Bürgermeister hat den bis heute (im Ausland) populärsten Vertreter Luxemburger Literatur eingeladen, an der 700-Jahrfeier des Ortes teilzunehmen. Norbert Jacques stirbt am 15. Mai 1954 aufgrund von Herzversagen in einem Koblenzer Hotel. Nach über fünf Dutzend Büchern, Hunderten von Texten, Übersetzungen, Filmskripten, Hörspielen, einem zerrissenen und abenteuerlichen Leben, auf den Straßen der Welt, Literat, Publizist, Globetrotter, dem man in Luxemburg kein Denkmal setzen muss, den man aber längst nicht mehr verschweigen darf. Der einmal leidend, auf dem Weg zum Bahnhof der Stadt, den Staub der Gassen abschüttelt. Der in sich horcht und wünscht: "Segnet mich, Reste meiner Heimat, die mir treu geblieben sind!" Süß und lieblich sah er zuvor die Silhouette, die Seele ist ihm nun schwerer als Blei, schwerer als die Felsen unter der Stadt, die sein Vaterhaus trägt.

Ausstellung: Norbert Jacques - Der Erfinder des Dr. Mabuse.
14. Oktober bis 18.Dezember 2004.
Centre national de littérature
2, rue Emmanuel Servais
L-7565 Mersch (Luxemburg)
Tel: +352 32 69 551, Fax: +352 32 70 90
E-mail: info@cnl.public.lu, www.literaturarchiv.lu


Titelbild

Norbert Jacques: Dr. Mabuse, der Spieler / Dr. Mabuses letztes Spiel. Zwei Romane.
Area Verlag, Köln 2004.
640 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-10: 3899960769

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Norbert Jacques: Mit Lust gelebt. Roman meines Lebens. Kommentierte, illustrierte und wesentlich erweiterte Neuausgabe.
Herausgegeben von Hermann Gätje, Germaine Goetzinger, Gast Mannes und Günter Scholdt.
Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2004.
599 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 3861103575

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