Wie die Barbaren

John Horne und Alan Kramer belegen, dass die Deutschen bereits im Ersten Weltkrieg die klaren Weltmeister im Töten waren

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bis heute spukt in deutschen Köpfen die Idee, den Ersten Weltkrieg habe keiner so recht gewollt. Tatsächlich fiel der berüchtigte "Schlieffenplan" zur völkerrechtswidrigen deutschen Blitzeroberung Frankreichs nicht vom Himmel. So hatte bereits Fritz Fischer in seiner Studie "Griff nach der Weltmacht" (1961) expansionistische Traditionen thematisiert, die vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus wirksam blieben. Doch das revisionistische Geschichtsbild eines "umzingelten" Deutschland, das wegen seiner geopolitischen "Mittellage" und einer vertrackten europäischen Bündnispolitik in den Krieg "hineingeschlittert" sei, erfuhr nach 1989 sogar eine Renaissance.

Deutsche Schulbücher lehrten bis in die siebziger Jahre, die deutsche Erschießung 248 unschuldiger Bürger in der Stadt Löwen am 25. August 1914 sei "belgische Kriegspropaganda" gewesen. Noch in Thomas Nipperdeys vielgerühmtem Werk "Deutsche Geschichte 1866 - 1918" (1993) steht zu lesen, bei der deutschen Invasion Belgiens hätten belgische "Franktireurs" (Freischärler) auf die Angreifer gefeuert und damit ominöse "kleine Zwischenfälle" provoziert.

Solche Legenden dürften jetzt nur noch schwer vertretbar sein. John Horne und Alan Kramer vom Dubliner Trinity College haben mit ihrer monumentalen Studie "Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit", die sich auf Quellenmaterial aus internationalen Archiven, Zeitungen, Briefen, Tagebüchern, Staatsschriften und die kritische Durchsicht der historiografischen Literatur fast eines ganzen Jahrhunderts stützt, eine minutiöse Rekonstruktion der ersten Kriegswochen vorgelegt.

Ihre Methode könnte kaum objektiver sein: Erstmals wird die Kriegsberichterstattung der deutschen mit der der alliierten Seite abgeglichen, um sie umfassend auf ihre Belegbarkeit hin zu überprüfen. Dabei kommen Wahrheiten zum Vorschein, die von deutschen Behörden und Historikern seit 1914 immer wieder bestritten wurden. Es ist aber höchste Zeit, sich an die deutschen Verbrechen des Ersten Weltkriegs zu erinnern, die bald danach im internationalen Gedächtnis vom allgemeinen Schreckensbild des mörderischen, erstarrten Grabenkampfes verdrängt worden waren.

In der Nacht zum 4. August 1914 marschierte das deutsche Heer in Belgien ein. Doch der Überfall auf Frankreich verzögerte sich, da das belgische Militär mehr Widerstand leistete, als man einkalkuliert hatte. Das Hauptproblem der Deutschen aber war eine fixe Idee, die sich seit einschlägigen Erfahrungen im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 zu einem paranoiden Feindbild verfestigt hatte.

Horne und Kramer belegen eindrucksvoll, wie die preußische Horrorvorstellung eines feindlichen "Volkskriegs", einer belgischen bzw. französischen levée en masse, zu einer kollektiven Autosuggestion von katastrophalen Ausmaßen führte. An jeder Ecke halluzinierten die deutschen Soldaten zivile Heckenschützen, die sie "heimtückisch" ermorden wollten. Sie gerieten in Panik, beschossen eigene Truppen und machten dafür reflexhaft die belgische Zivilbevölkerung verantwortlich.

Die Autoren diagnostizieren eine paranoide Externalisierung manifester innerer Gefährdungen des Heeres. Die Aggression nach außen jedoch exorzierte die eigene Panik und suggerierte so einen Rückgewinn militärischer Kontrolle. Die Oberste Heeresleitung unterstützte diese Brutalisierung gezielt. Zwischen August und Oktober 1914 wurden circa 6 500 wehrlose Männer, Frauen und Kinder massakriert. Städte und Dörfer in Belgien und Frankreich wurden niedergebrannt.

Gleichzeitig belegt die Studie, dass es einen belgischen Volkswiderstand gegen die deutsche Invasion, der nach der Haager Landkriegsordnung (1907) sogar legitim gewesen wäre, nirgends gegeben hat. Sehr wohl aber missachteten die Angreifer die von ihnen unterschriebenen Kriegsregeln, da sie es bereits als empörendes Verbrechen ansahen, dass die belgischen Streitkräfte sie nicht "durchließen".

Das Buch eröffnet damit nicht nur weitere erhellende Perspektiven auf den späteren, als "Partisanenkampf" legitimierten Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten mit seinen "drakonischen Vergeltungsmaßnahmen" in ganz Europa. Massenpsychologisch extrem wirksame Legendenzyklen von Gräueln, die von Regierung und Presse zu einer Propaganda von beängstigender Irrationalität aufgebauscht werden können, ließen sich auch während der jüngsten Kriege in Jugoslawien beobachten, wie die Autoren in einem abschließenden Ausblick bemerken.

Im Ersten Weltkrieg und weit darüber hinaus glaubte man in Deutschland an die besondere Heimtücke der Belgier. Kleine belgische Mädchen bzw. als Rotkreuzhelfer getarnte "Franktireurs" hätten verwundeten Deutschen mit Stecknadeln die Augen ausgestochen, ihnen die Ohren, die Genitalien und die Köpfe abgeschnitten. Man behauptete gar, die Soldaten seien aus Häusern mit siedendem Öl übergossen worden. Dass derartig altertümliche Kampfmethoden, hätten sie denn der Realität entsprochen, gegen ein modernes deutsches Heer von über einer Million Mann nicht gerade zu den effektivsten Verteidigungsstrategien eines angeblich so gefährlichen "Volkskrieges" zählen dürften, blieb unberücksichtigt.

"Die Belgier stehen ja auf der Stufe der Herrero's (sic), tief unter den Hottentotten!" notierte General a. D. Konstantin Baron von Gebsattel und verriet damit viel über das rassistische Weltbild der Aggressoren, das durch die vergangenen deutschen Kolonialmassaker in Ost- und Südwestafrika verschärft worden war. Hinzu kam ein geradezu pathologischer Hass auf katholische Priester. Das führte dazu, dass man belgische Geistliche stereotyp beschuldigte, die einheimische Bevölkerung zum Widerstand aufgehetzt zu haben. Ähnlich wie die Bürgermeister der eroberten Städte brachte man sie auf bloßen Verdacht hin um - eine der Standardbeschuldigungen lautete, sie hätten vom Kirchturm gefeuert oder geheime Signale abgegeben.

Nebenbei zeigen Horne und Kramer in einem kurzen Vergleich, dass es für die deutschen Übergriffe auf die Zivilbevölkerung kein Äquivalent bei Feldzügen anderer Nationen gab. Dies stützt ihre These, dass die beschriebenen Wahnvorstellungen einer spezifisch deutschen Mentalitätsgeschichte entsprangen. Gerade die von der deutschen "Kulturnation" gerne als meuchelmörderische Barbaren imaginierten Russen benahmen sich bei ihrem berüchtigten ostpreußischen Feldzug vom August 1914 gegenüber den deutschen Einwohnern vergleichsweise zurückhaltend.

Die Deutschen aber, die ihre Expansion als Verteidigung eigener "Kulturwerte" verstanden, begingen in belgischen Städten wie Dinant (674 Tote) und Tamines (383 Tote) ausgedehnte Massaker an hilflosen Bürgern und Familien. Zudem benutzten sie Dorfbewohner als menschliche Schutzschilde, vergewaltigten Frauen und Mädchen, nahmen Geiseln und deportierten sie unter Misshandlungen nach Deutschland. Deutsche Offiziere schossen schließlich sogar selbst in die Luft, riefen "Franktireurs!" und ließen zur "Vergeltung" ganze Städte dem Erdboden gleichmachen.

Ihre Willkür war groß, wie Horne und Kramer zeigen. Hatten die Bürgermeister vor dem deutschen Einmarsch vorsichtshalber alle Waffen einsammeln lassen, galt den Besatzern plötzlich genau dies als Beleg eines geplanten Volksaufstands; suchten verängstigte Bürger in Kellern Zuflucht, mutmaßten ihre Entdecker, verschwörerische Verstecke ausfindig gemacht zu haben und brachten ganze Familien um. Im Zuge der Kampfhandlungen brannten die Deutschen die uralte Bibliothek der Universität Löwen nieder. Zuletzt schossen sie sogar die Kathedrale von Reims in Grund und Boden.

Mehr noch als die barbarischen Gemetzel, die große Fluchtbewegungen auslösten, griff die alliierte Propaganda zunächst diese Zerstörung weltberühmter Gebäude auf und bezeichnete sie als das Resultat des "Siegeszugs" deutscher "Kultur". Erste Augenzeugenberichte traumatisierter Opfer führten schließlich auch auf Seiten der Alliierten zu einem eigenen propagandistischen Narrativ, das den Deutschen zur Last legte, sie hätten belgischen Kindern die Hände abgehackt, Soldaten gekreuzigt, Frauen die Brüste abgeschnitten und die Bewohnerinnen ganzer Nonnenklöster vergewaltigt.

Zwar entsprangen, wie Horne und Kramer nachweisen, auch diese Behauptungen einer verstörten Phantasie, doch betonen sie gleichzeitig, dass es sich hierbei um Symptome einer verzerrten kollektiven Beschreibung realer Massaker handelte, während die verhängnisvollen Hirngespinste der deutschen Invasoren keinerlei wahren Kern hatten. Zudem übernahm die belgische Regierung niemals derartige Gräuelphantasien in ihre öffentlichen Erklärungen, während das deutsche Auswärtige Amt sogar noch nach dem Versailler Vertrag weiter an seiner abstrusen Behauptung eines "belgischen Volkskriegs" festhielt.

Hornes und Kramers Arbeit, die im Original bereits 2002 erschien, ist ein Meilenstein der Historiografie zum Ersten Weltkrieg. Die Autoren haben es nicht nötig zu polemisieren. Sind sie doch auf ihrer besonnenen Suche nach der Wahrheit einen großen Schritt weitergekommen. Es steht allerdings zu befürchten, dass man hierzulande versuchen wird, ihr Werk als Studie über Propagandalügen auf "beiden Seiten" herunterzuspielen.

Titelbild

John Horne / Alan Kramer: Deutsche Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene Wahrheit.
Übersetzt aus dem Englischen von Udo Rennert.
Hamburger Edition, Hamburg 2004.
741 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-10: 3930908948

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch