Zootiere nebst Darmkarzinom

Michael Lentz schreibt in "muttersterben" gegen den Sprachkonventionalismus an

Von Birte TeitscheidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Birte Teitscheid

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In dem nun auch als Taschenbuch vorliegenden Kurzgeschichtenband "muttersterben" von Michael Lentz handeln alle Erzählungen mehr oder weniger vom Abschiednehmen. Wie etwa die Vorstellung von einem Garten, der mit angenehmen Kindheitserinnerungen verknüpft ist und sich dennoch mit der dazugehörigen fotografischen Dokumentation in Simulation auflöst. Oder die Verabschiedung von der großen Geschichte, die in Gestalt eines "unscheinbaren Mannes im grauen Hut" einen starken Kaffee trinken geht. Alle Geschichten erzählen vom Erinnern und vom grotesken Scheitern, sich endgültig erinnern zu können.

Weil das Stapeln von Erinnerungen zur großen Tugend junger deutscher Literatur nach 1989 geworden ist, sind die Schilderungen ambitionierter Schriftsteller aus dem Nähkästchen ihrer Drogen- oder Musik-induzierten Jugendhaftigkeit schon fast unerträglich geworden. Wer will heute schon noch lesen, wie eine Plattensammlung einen ungemeinen Bedeutungshorizont bekommen kann, wenn einen die Freundin verlässt. Wenn Michael Lentz sich erinnert, geschieht dies allerdings auf eine bedeutsame Art. Bedeutsam, weil er aus einer durch gängige Sprachfloskeln vermieften Alltagssprache neues Ausdrucksmaterial produziert, welches sich selbst nicht allzu viel bedeuten will.

Michael Lentz bricht mit seiner Wortpoetik die Grenzen des Rhetorischen auf. Den Krebstod seiner Mutter beschreibt er in der Erzählung "muttersterben" mit einer akrobatischen Sprache voller Zeitlöcher und Verstöße gegen die grammatische Ordnung. Die Dinge wuchern mit den Wörtern aus dem Text: "RADIKALTUMOR. Bei leber is' sense". Die Mutter, die in der depressiven Nachkriegsstimmung ihrer eigenen Generation schon lange auf "ihrem Fahrradweg zur Schule abhanden gekommen" ist, siecht über einen Zeitraum von vier Jahren dahin.

Die Rekonstruktion des Muttersterbens durch den sprachbegabten Nachwuchs gestaltet sich schwierig. Immer wieder behindern Fragen, wie die nach dem "gedankenhaushalt" der Mutter, dem sie "nicht so souverän vorstand wie ihrem haushalthaushalt", den Nachvollzug ihres klinischen Zerfalls. Am Ende der Erzählung verschwindet die komatös gewordene Muttergestalt mit Totenschädel, bei deren Anblick "fassung und sprache verloren gehen". Eine Vertröstung, welche die Erinnerung an die Mutter durch das Geschriebene festhält, erfolgt nicht: "entweder handelt alle poesie vom tod oder die poesie ist tod."

Sprache, so zeigt Lentz, spielt mit ihren Bedeutungen und führt die Lesenden in ihr syntagmatisches Eigenleben. Jedes Wort kann durch eine andere Position im Satz zur Sensation geraten und gleichzeitig zur Unschärfe des Augenblicks beitragen. Das Sprachmaterial folgt seinen Kontexten in eine zerstreute Wahrnehmung. Eine Reise im Flugzeug lässt den Erzähler den Boden unter den Füßen verlieren, das Rauchen einer Zigarette transportiert die Leser unweigerlich in einen Zoo, ein aus der Tageszeitung geschnipselter Mordfall führt zu der schon surrealen Episode eines Butterbrotes mit Schinken.

Sprachexperimente dieser Art verweisen auf Kunstsprachen, wie sie etwa die "Wiener Gruppe" in den sechziger Jahren entwickelt hat. Deren Mitglieder hatten mit ihrer "Konkreten Poesie" schon damals das simultane Nebeneinander der Wörter als Chance angedacht, um dem Sprachkonventionalismus des Literaturbetriebes nach 1945 zu entkommen. Auch Michael Lentz scheint das muntere Addieren und Subtrahieren von Sprachmaterial als Nische erkannt zu haben.

Titelbild

Michael Lentz: Muttersterben. Prosa.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
192 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 3596155495

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