Der Kern der Dinge bin ich

Jenny McPhees Debütroman "Der Kern der Dinge"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Marie Brown hat einen außergewöhnlichen Job. Sie arbeitet für den Gotham City Star, und eine ihrer Aufgaben besteht darin, Material für Nachrufe von Prominenten zu sammeln, die noch nicht gestorben sind. Marie wäre gerne eine ernsthafte Journalistin, verbringt ihre Zeit aber größtenteils damit, für die Artikel ihrer Kollegen zu recherchieren und sie anschließend sogar zu verfassen, zumindest aber aufzupolieren. Wenn sie wieder mal auf jemanden wartet, rechnet sie die Stunden zusammen, die sie mit dem Warten verbringt oder sie hasst sich selbst. "Zunächst hasste sie sich nur, weil sie zu früh war, aber bald hasste sie sich auch, weil sie ihr Studium abgebrochen hatte, weil sie nicht verheiratet war, weil sie auf einem Ohr halb taub war, weil sie für eine Boulevardzeitung schrieb, weil sie schon neununddreißig war, weil sie glattes Haar hatte, weil sie keine Kinder hatte, weil sie nie ihre Hausarbeit in Wissenschaftstheorie beendet hatte, an der sie seit fünfzehn Jahren geschrieben hatte, weil sie einszweiundachtzig und einen Viertel Zentimeter groß war." Gerne wäre Marie wie Nora Mars, die große Filmdiva. Die Journalistin kennt Mars' Filme zwar beinahe auswendig und kann bei jeder Gelegenheit ad hoc aus ihnen zitieren - "'Tu was du willst, wo du willst und sei immer für eine Überraschung gut.' Nora Mars, Blitz, 1972." - es gelingt ihr jedoch nicht, sich auch nach deren Verhaltensmaßregeln zu richten. Statt dessen bleibt sie berechenbar und furchtbar normal.

Doch jetzt liegt die Schauspielerin im Koma und Marie sieht ihre Chance gekommen: Sie darf den scheinbar bald benötigten Nachruf nicht nur recherchieren, sie darf ihn auch verfassen und unter ihrem eigenen Namen veröffentlichen. "Einen skandalösen Nachruf auf die Skandalkönigin", fordert der Chefredakteur - und Marie hat bald mehr Stoff für ihren Artikel, als ihr lieb sein kann.

Jenny McPhee verbindet Maries Versuch, sich als Journalistin zu behaupten und Nora Mars' Leben auszukundschaften, mit einer Reise in die Welt der Physik. Dies klingt befremdlich, wenn nicht sogar unmöglich, und gelegentlich passen die beiden Teile des Romans tatsächlich nicht zusammen.

Wenn Marie nicht gerade versucht, die Angehörigen der bewusstlosen Filmdiva zum Sprechen zu bringen und ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken, verbringt sie ihre Zeit in der Bibliothek, um Recherchen für ihre nicht abgeschlossene Hausarbeit zu betreiben. Dort trifft sie regelmäßig auf Marco Trentadue, der nicht nur eine gewisse Ähnlichkeit mit Peter Lorre besitzt, sondern Marie auch immer wieder in komplexe Gespräche über Quantenphysik oder das Wesen der Zeit verstrickt, die dann auf Sätze wie diese hinauslaufen: "Wenn die Quantenmechanik gültig ist, beweist Bells Theorem, dass zwei beliebige Teilchen, sobald sie Kontakt haben, sich verschränken und gegenseitig beeinflussen, egal wie weit sie sich danach voneinander entfernen, was der speziellen Relativitätstheorie natürlich widerspricht, denn die Kommunikation der Teilchen wäre dann schneller als die Lichtgeschwindigkeit. Dieses Phänomen nennt man Nichtlokalität, weil es unabhängig von Raum und Zeit ist, ebenso wie Wissen oder Kommunikation."

So philosophieren sich die beiden durch die zwölf Kapitel des Romans, die Titel wie "Wahrheit", "Realität" oder "Schicksal" tragen und, neben (manchmal leicht aufgesetzt wirkenden) Diskussionen über eben diese Themen, in denen Marie und Marco Parallelen zwischen der Physik und dem Leben ziehen, auch immer wieder neue Erkenntnisse über die umtriebige Nora Mars enthalten.

Es ist sehr amüsant, die leicht neurotische Marie Brown dabei zu beobachten, wie sie sich durch den - ein wenig überspitzt dargestellten - Alltag einer Journalistin kämpft und daneben auch noch auf der Suche nach dem Traumprinzen bleibt ("'Jede Geschichte ist eine Liebesgeschichte.' Nora Mars, Die verflixte Liebe, 1962."). Die immer wieder eingeworfenen Zitate der sterbenden Filmdiva sind äußerst unterhaltsam und die Erklärungen über die Rätsel der Physik sind, wenn auch bisweilen anstrengend, doch immer interessant und lehrreich.

Für Jenny McPhee gehören Wissenschaft und Kunst zusammen - darüber mag man geteilter Meinung sein, in diesem Falle passen die beiden allerdings (bis auf wenige Ausnahmen) großartig zusammen und ergeben gemeinsam einen intelligenten Roman, der ausnahmsweise tatsächlich einlöst, was die Aufschrift auf dem Cover verspricht: "Eine kluge, sexy Story über das Kino, Klatschpresse, Quantenphysik und Mr. Right" zu liefern.

Titelbild

Jenny McPhee: Der Kern der Dinge. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Juliane Zaubitzer.
Gerd Haffmans bei Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2004.
255 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 386150524X

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