Zeugnisse aus einer versinkenden Welt

Der Historiker und Mediävist Karl Hampe in seinem Tagebuch des Ersten Weltkrieges

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegen die populären und fast übermächtigen Feindbilder, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Herzen Mitteleuropas die Realitätswahrnehmung der deutschen Bevölkerung und ihrer politischen Führung so nachhaltig trübten, waren auch die Intellektuellen nicht gefeit. Anglophobie und Frankophobie beherrschten den deutschen "Weltherrschaftskampf" im Westen, und das Unbehagen, an Österreich als dem "politischen Leichnam" des Südens gekettet zu sein, wurde nur noch von der namenlosen Angst vor dem "slawischen Druck" Russlands übertroffen. Die Nachricht von der Revolution in Petersburg am 15. März 1917 durfte man folglich mit Erleichterung aufnehmen: "Je mehr Chaos dort, desto besser für uns." Doch sorgte bald das "Schreckensregiment" der Bolschewiken für neue Besorgnis.

Die Tagebuchaufzeichnungen des Heidelberger Historikers und Mediävisten Karl Hampe sind eine besonders ergiebige Quelle für die Alltagsgeschichte des Ersten Weltkrieges und die politische und weltanschauliche Großwetterlage an der "Heimatfront". Hampe, Jahrgang 1869, war als Experte für belgische Geschichte zwischen 1914 und 1918 Berater des Auswärtigen Amtes und hatte daher oft in Berlin zu tun. 1917 entstand ein Artikel über Belgien als Kriegsschauplatz, der sich an der Haltung Bethmann Hollwegs orientierte, der von einer "völligen Einverleibung" Belgiens nichts wissen wollte und sich im Übrigen bei der Nennung konkreter Kriegsziele zurückhielt.

Hampe war ein liberal denkender Mann, der die lebensweltlichen Veränderungen unter den Vorzeichen des Krieges penibel aufzeichnete, die alltäglichen Beeinträchtigungen durch Hunger und Kälte, Opfer und Entbehrungen, Propaganda, Streiks und Plünderungen in ihrer Auswirkung auf die Bevölkerung darstellte und den eigenen Sinneswandel registrierte. Vermutlich liegt hierin die eigentliche Bedeutung seines Tagebuches: Es lässt erkennen, "wie der durch Krieg und Revolution veranlaßte Umburch von der Monarchie zur Republik sich im Bewußtsein eines gebildeten und an den Ereignissen teilnehmenden Beobachters abbildete."

Hampes Tagebuch beginnt mit dem 2. August 1914, dem Tag nach der deutschen Kriegserklärung an Rußland, und reicht bis zum 29. Juni 1919, dem Tag nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrages. Anfang und Ende sind mit Bedacht gewählt und vollziehen den Weg vom "Herzensmonarchisten" zum "Vernunftrepublikaner" nach, der sich der Einsicht nicht verschließen kann, dass sich die völlig demoralisierten Deutschen eine Revision von Versailles erst noch verdienen müssten.

Karl Hampe, ein Wissenschaftler, für den Lehre und Forschung das gleiche Gewicht besaßen, beschreibt das akademische Leben an der Alma Mater mit leidenschaftlicher Anteilnahme. Er taxiert seine Kollegen, berichtet von Forschungserträgen, gibt Einblicke in Berufungsverfahren, resümiert Antrittsvorlesungen oder erzählt von Examina. Seine überwiegend männlichen Kandidaten müssen sich nicht selten im Garnisonsdienst auf ihre Prüfungen vorbereiten, und bald legen zunehmend auch Kriegsinvaliden Doktorprüfungen ab. Bei einer kleinen Promotionsfeier hat die Hälfte der Gäste künstliche Gliedmaßen, und regelmäßig gedenkt man derer, die aus ihrem jungen Leben gerissen werden: "Gestern früh 6 Uhr ist Hans Lülmann gestorben. Ein frischer, warmherziger, mutiger und entschlußvoller Mensch ist mit ihm verloren. Er ist uns sehr viel gewesen."

Mit seinen Kindern besucht Hampe Schützengräben, die zu Demonstrationszwecken in der Nähe des Heidelberger Güterbahnhofes ausgehoben worden sind, und er beobachtet mit ihnen Kriegsgefangene aus Belgien, England, Frankreich und Russland in einem benachbarten Gefangenenlager: "wie sie Tennis spielten, turnten oder Märsche machten, war interessant." Seine Zeitungslektüre - bis zu dreimal täglich! - wird zur politischen Kaffeesatzleserei: Den "Maulwurfskrieg" im Westen charakterisiert Hampe als "niederdrückend", die Operationen im Osten gelten ihm "bei aller Nüchternheit" als "vielverheißend". In der "Frankfurter Zeitung", der "Weser-Zeitung" ("Englische Ruhmredigkeit") und anderen veröffentlicht Hampe eigene Einschätzungen der politischen Lage.

Parteipolitisch rechnete sich Hampe dem gemäßigten Flügel der Nationalliberalen zu und teilte deren Vorbehalte gegenüber Parteiendemokratie und Parlamentarismus. Mit einem "gewissen Ekel" verfolgte er die innenpolitische Debatte über Parlamentarisierung: "War im Tagebuch vom Reichstag die Rede, so meist im Ton der Empörung über die dort gehaltenen Reden." Das Programm der 1917 gegründeten Vaterlandspartei fand seinen "vollen Beifall", wenn ihn auch störte, dass rechte Scharfmacher deren Führungsspitze bildeten. Sein Argwohn galt der Sozialdemokratie, deren Patriotismus er misstraute, während seine Abneigung gegen Kaiser Wilhelm II. bald in Verehrung umschlug. Die moderne Massengesellschaft betrachtete er mit Distanz: Er verurteilte das "kriegsbetörende Kriegsgeschrei" in den Großstädten ebenso wie die "judenhetzerischen" Demonstrationszüge der Heidelberger Studenten, die "Putschlust" der Deutschnationalen oder die Disziplinlosigkeit deutscher Matrosen im belgischen Antwerpen.

Karl Hampe hat nie daran gedacht, seine Tagebücher der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die insgesamt zwölf Hefte des Originals firmieren als "Kriegstagebücher" bzw. "Tagebuch" und sind bis heute in Familienbesitz. Die plastische Beobachtungs- und Darstellungsgabe ihres Verfassers prädestiniert sie jedoch geradezu für eine wissenschaftliche Edition als Teil eines repräsentativen Gelehrtennachlasses. Folker Reichert und Eike Wolgast haben sie besorgt und verantwortet und wurden dabei aus Mitteln der Bayerischen Akademie der Wissenschaften unterstützt. Sehr nützlich und übersichtlich ist ihre Einleitung, die nach der Überlieferungsgeschichte und Bedeutung des Kriegstagebuchs fragt, einen biographischen Abriss des 1936 verstorbenen Historikers bietet, Hampes Familie und seine wissenschaftliche Laufbahn charakterisiert, seine Publikationen würdigt und kontextualisiert, den akademischen Alltag, die Kollegenschaft (neben Alfred Weber und der "überragenden Gestalt" Max Webers auch der Historiker Karl Hermann Oncken) und die Auswirkungen des Krieges auf das universitäre Leben nachvollzieht. Ein umfangreicher Teil der 90-seitigen Einleitung gilt Hampes Wahrnehmung von Krieg und Politik, ein anderer dem Familienleben, den Versorgungsfragen unter dem Eindruck der Kriegswirtschaft, ein weiterer dem Verhältnis Hampes zum Judentum. Das Tagebuch selbst ist vollständig erfasst und sorgfältig kommentiert. Die Fußnoten auf jeder Seite stellen das notwendige historische Wissen bereit, bieten bibliographische Hinweise, weisen auf grundlegende und weiterführende Literatur hin und stellen Querverweise zwischen den diversen Einträgen her. Das Quellen- und Literaturverzeichnis und vor allem das kommentierte Personenregister zeigen, wie sorgfältig die Herausgeber gearbeitet haben. Hier ist kaum ein Name ungeklärt geblieben.

Titelbild

Karl Hampe: Kriegstagebuch 1914-1919.
Herausgegeben von Folker Reichert und Eike Wolgast.
Oldenbourg Verlag, München 2004.
1020 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 348656756X

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