Heroischer Realist

Giorgio Agamben und die apathische Disponibilität

Von Florian FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die düsteren Thesen des italienischen Philosophen Giorgio Agamben waren wohl vor dem 11. September 2001 noch inkommensurabel. Die deutsche Rezeption setzte im Grunde erst nach 2002 ein. Denn Suhrkamp legte das Buch "Homo Sacer" erst sieben Jahre nach dessen Erscheinen in Italien auf Deutsch vor. Aber es ist nicht so, dass Agamben auf den Zug aufgesprungen ist. Schon vor den Terroranschlägen hatte er Akte "reiner Zerstörung" von "vollkommen destruktivem oder entschöpfenden Charakter" vorausgesagt.

Seit Ende der 80er Jahre hat sich Agamben nachhaltig politisiert. Sein "Homo Sacer"-Projekt hat seinen Ausgangspunkt in der desolaten italienischen Situation Mitte der 90er Jahre und besteht zunächst darin, "sämtliche Kategorien unserer politischen Tradition im Licht des Verhältnisses zwischen souveräner Macht und bloßem Leben" radikal in Frage zu stellen und neu zu denken. Wer politische Kategorien wie "Souveränität, Recht, Nation, Volk, Demokratie" weiterhin unhinterfragt verwende, ohne sie zugleich im Licht der Biopolitik zu begreifen, wisse "nicht wovon er redet." Angesichts einer Politik, die "keinen anderen Wert (und folglich keinen Unwert)" kenne "als das Leben", sei die entscheidende Frage, was politisches Handeln heute heißt. Die aktuelle Situation erfordere, die verborgene Seinsverwandtschaft zwischen totalem und demokratischem Staat wahrzunehmen, ohne die "enormen Unterschiede" zwischen beiden einzuebnen. Gleichwohl müsse man eine "zunehmende Konvergenz" der feindlichen Brüder konstatieren. Agamben redet von einem permanenten Ausnahmezustand, der immer mehr zu einer Regierungstechnik auch der westlichen Staaten werde. Dies sei "umso beunruhigender, als die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts deutlich zeigt, dass keine Demokratie einem zu lange ausgedehnten Ausnahmezustand und einem permanenten Kriegszustand zu widerstehen vermag." Daher sei es dieses Modell, "das uneingeschränkt zurückgewiesen werden muss. Denn in dieser Perspektive bilden Staat und Terrorismus am Ende ein einziges System mit zwei Gesichtern."

Den Ausnahmezustand beschreibt Agamben als "zeitweilige Aufhebung der Ordnung, der sich indes, in jedem fundamentalen Sinn, als Konstituent von deren Struktur offenbart." In der Form des Ausnahmezustands kommt die Struktur zu sich selbst. Die Gewalt, die der Ausnahmezustand entfesselt, geht ihm gleichsam voraus. In diesem Sinne bestätigt die Ausnahme nicht die Regel, sondern definiert sie. Sie steht zur Regel nicht in einem quantifizierbaren Ableitungs- bzw. Kausalverhältnis, sondern in einer spezifischen Beziehung der einschließenden Ausschließung. Daher der enge Zusammenhang zwischen Ausnahmezustand und Lager.

Die Biopolitik, die Foucault zur Charakterisierung der Moderne verwendete, spürt Agamben allerdings schon bei Aristoteles auf. Warum? Weil es ihm neben Zeitdiagnosen - die vielleicht nicht mal allzu neu sind, Leo Löwenthal hat bereits 1945 die Analogie zwischen Lager und Gesellschaft im permanenten Terror wesentlich schärfer analysiert - ganz philosophisch um das heutige Sein geht. Agamben vertritt eine weitaus klassischere Konzeption als beispielsweise Foucault, der den "Wahrheitsanspruch" der Philosophie längst hinter sich gelassen hatte.

Dieses gegenwärtige Sein findet paradoxerweise in einer Extrem-Figur des nationalsozialistischen Lagerlebens seine paradigmatische Ausprägung und geht erstmals über sich hinaus. Im Muselmann - der schon nicht mehr zwischen den Schlägen der SS und dem Beißen der Kälte unterscheiden kann - kristallisiert sich der Zustand, auf den wir - nach Agamben - alle letztlich hinsteuern: die globale Apathie. Der Muselman lebt in einem Zustand völliger Passivität. Und das ist der Zustand, in den auch der isolierte, vom Spektakel im Sinne Guy Debords zum Zuschauer gemachte Bürger letztlich verfällt. Im Spätkapitalismus werden die Menschen müde. Das Leben wird immer mehr zum Warten auf den Tod. Nicht nur faktisch also nähert sich der vakante Status des bürgerlichen Subjekts in der Moderne dem des Homo Sacer/Muselmann an. Für Agamben sind wir gewissermaßen alle Überlebende, der übriggebliebene Rest.

Das aber berechtige weder zur Verzweiflung noch zum Zynismus. Vielmehr zwinge diese Situation die Philosophie, sich neu zu denken. Für Agamben ist die Philosophie nur noch als Geste eines Überlebenden, eines Exemplars vorstellbar, das sich gegen seine Rückverwandlung in ein Tier wehrt - aber nicht durch die zwanghafte Aufrechterhaltung eines Ichs im Sinne einer Identität, sondern durch sein Einverständnis in die Beliebigkeit seiner Existenz. Und wie können wir reagieren auf die Katastrophe, in der wir bereits leben? Zunächst einmal durch radikale Zurückweisung. So sagte Agamben Lehrveranstaltungen in den USA ab, weil er sich nicht den verschärften Sicherheitskontrollen, dem genetischen Pass usw. unterwerfen wollte. Dabei ging es ihm explizit nicht darum, persönlich dieser Prozedur zu entgehen, sondern darum, ein Zeichen zu setzen. Zudem forderte er andere ausländische Lehrkräfte und Intellektuelle auf, die Vereinigten Staaten ebenfalls zu boykottieren.

Aus dem Gesagten dürfte klar hervorgehen, dass man Agambens Thesen nicht ohne weiteres für eine politische Analyse verwenden sollte. Jedenfalls dann nicht, wenn man den gedanklichen Hintergrund seiner provokanten Theoreme geflissentlich ignoriert.

Nicht zu Unrecht hat sich der Philosoph kürzlich gegen bestimmte Missverständnisse in der Rezeption seines Werkes verwahrt: "Vor ein paar Jahren habe ich einmal geschrieben, dass das politische Urbild des Westens nicht mehr die Stadt, sondern das Konzentrationslager ist, nicht Athen, sondern Auschwitz. Das war natürlich eine philosophische, keine historische These. Es geht nicht darum, Phänomene zu vermischen, die getrennt werden müssen. Ich möchte nur daran erinnern, dass die Tätowierung in Auschwitz möglicherweise als 'normale' und wirtschaftliche Art erschien, um die Aufnahme der Deportierten ins Lager zu regeln."

Titelbild

Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Homo sacer III.
Übersetzt aus dem Italienischen von Stefan Monhardt.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
190 Seiten, 9,50 EUR.
ISBN-10: 3518123009

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Titelbild

Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Homo sacer II. Bd. 1.
Übersetzt aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
113 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-10: 3518123661

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