"Paris ist eine Art Enzyklopädie für mich"

Günter Schütz über Peter Weiss und Paris

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor fünfundzwanzig Jahren stellte Karsten Witte ein "Städte-Lesebuch" zu Paris für den Insel-Verlag zusammen, das auch zwei Ausschnitte aus umfangreicheren Texten von Peter Weiss (1916-1982) enthält: "Allée des Cygnes" aus dem Roman "Fluchtpunkt" (1962) und einen Abschnitt aus dem "Pariser Journal" (1964). In seinem Nachwort behauptete Witte, dass Peter Weiss "unter den deutschen Paris-Reisenden für das 20. Jahrhundert die Bedeutung einnimmt, die Heine für das 19. und Forster für das 18. Jahrhundert zukam".

Das erscheint mir reichlich hoch gegriffen, denn ich glaube kaum, dass Weiss' Texte objektiv im deutsch-französischen Kulturtransfer einen derart hohen Stellenwert einnehmen wie die Heinrich Heines oder Georg Forsters, die beide die letzten Jahre ihres Lebens in Paris verbrachten und tatsächlich in vielerlei Hinsicht wichtige Nachrichten über Französische Zustände nach Deutschland übermittelten, die anders nicht zu haben waren.

Subjektiv allerdings hatte Paris für den Schriftsteller Peter Weiss eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Er äußerte einmal, dass diese Stadt, auch wenn sie eine "Art unglückliche Liebe" für ihn war, doch einen "Initialwert" für ihn besaß. "Unglücklich" war diese Liebe, weil Weiss immer wieder versucht hatte, in Paris Fuß zu fassen, doch immer wieder an der Sprache scheiterte: Er lernte nie ordentlich Französisch, und damit war eine Integration in die französische Kunstszene von vornherein unmöglich. Einen "Initialwert" hatte Paris jedoch für ihn, weil "hier alles lebte, was für meine eigene Entwicklung Bedeutung hatte", wie er sich ausdrückte.

Damit meinte Weiss vor allem die Künstler der Moderne des 20. Jahrhunderts, die ihn nach seiner Abwendung von seinen neoromantischen Anfängen am meisten beeindruckten: Von Arthur Rimbaud und August Strindberg über Henry Miller und Louis-Ferdinand Céline bis Ernest Hemingway und Samuel Beckett, die Surrealisten um André Breton und Paul Eluard, die avantgardistischen Filmemacher der 1920er Jahre, so unterschiedliche Maler wie Henri Rousseau, Max Ernst oder Pablo Picasso, die Aktionskünstler der 1960er Jahre wie Daniel Spoerri oder Jean Tinguely und viele andere mehr.

Es war vor allem der Mythos von Paris, den er wahrscheinlich schon als Student an der Kunstakademie in Prag einsog, dieser Schwesterstadt von Paris, was die Lebendigkeit der künstlerischen Moderne angeht, der Weiss unwiderstehlich anzog. Verstärkt wurde diese Attraktion durch die lebhafte Rezeption, die der französische Surrealismus und Existenzialismus im Schweden der 1940er und 1950er Jahre erfuhr, und zwar besonders in den Kreisen, an die Weiss nach seiner Ansiedlung in Stockholm Anschluss gefunden hatte: die heute als klassische schwedische Moderne empfundene Gruppe der 'Fyrtiotalisten', also Karl Vennberg, Erik Lindegren, Stig Dagerman, Gunnar Ekelöf, Artur Lundkvist und andere. Noch in den 1960er Jahren war Paris, so erinnerte sich der Kunsthistoriker Werner Spies, "im intellektuellen Sinne sicher das einzige, was einen locken konnte. Nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt! Der Sog von Paris war einfach stärker als der von New York oder sonst was. Die Kunst und auch die Literatur, das war beinahe identisch mit dem, was sich in Paris abspielte."

Für Peter Weiss war Paris dann wirklich so etwas wie ein Neuanfang. Seine beiden autobiografischen Bücher "Abschied von den Eltern" und besonders "Fluchtpunkt" steuern unaufhaltsam auf einen absoluten Nullpunkt der persönlichen und künstlerischen Existenz hin. "Cora war verloren, meine Ehe war mißglückt, aus einer Anpassung war nichts geworden. Ein Berg von raschelnden, knisternden Papieren blieb im Zimmer zurück. Nichts hatte sich mit den Papieren halten lassen." Da sah der Ich-Erzähler plötzlich im Schaufenster eines Stockholmer Reisebüros ein Plakat: "Paris als Reiseziel. Am selben Abend noch stieg ich in den Zug, und im Frühlicht, zwei Tage später, tauchten die Vororte von Paris auf". Angekommen in der "verheißungsvollen Stadt" geschah dann das Wunder: "der Augenblick der Sprengung, der Augenblick, in dem ich hinausgeschleudert worden war in die absolute Freiheit". Diese Freiheit gebiert den neuen Künstler Peter Weiss, "an einem Spätnachmittag" und "unter den Bäumen der Allee auf dem Damm in der Mitte der Seine" gewann er eine neue Sicherheit: "Die Freiheit war noch vorhanden, doch ich hatte Boden in ihr gewonnen, sie war keine Leere mehr, in der ich im Alptraum der Anonymität lag [...], es war eine Freiheit, in der ich jedem Ding einen Namen geben konnte [...]. An diesem Abend, im Frühjahr 1947, auf dem Seinedamm in Paris, im Alter von dreißig Jahren, sah ich, daß ich teilhaben konnte an einem Austausch von Gedanken, der ringsum stattfand, an kein Land gebunden."

So endet der Roman "Fluchtpunkt" - und es ist wirklich ein Roman-Ende! Haben sich die Leser auf den angebotenen autobiografischen Pakt eingelassen ("Alles, was Literatur war, war verwelkt [...]. In der Forderung nach Wahrheit konnten nur noch die intimsten persönlichen Aussagen gelten. Tagebücher, Krankenjournale, Berichte"), so könnten sie sich getäuscht fühlen, wenn sie Günter Schütz' Rekonstruktion der tatsächlichen Beziehungen von Weiss zu Paris folgen. Denn im Frühjahr 1947 war Weiss gar nicht in Paris.

Hat er das Erlebnis erfunden und damit erfolgreich - siehe das Nachwort von Witte, der ja genau diese Passage in seine Anthologie aufnahm - bloß an dem Mythos Paris weiter gesponnen? Das kann man nun auch wieder nicht sagen, denn dem berichteten Erlebnis liegen durchaus reale Erinnerungsfragmente zu Grunde, doch fanden die entsprechenden Ereignisse im Herbst 1950 statt, und auch nicht genau so. Dazu kommen einzelne Vorkommnisse auf späteren Paris-Reisen, die der Schriftsteller 1962 retrospektiv zu einem poetischen Bild verdichtete.

Ist das nicht das gute Recht der Dichter? An anderer Stelle schrieb ich über den Schluss das Romans: "Tatsächlich" sei der genannte "Augenblick der Sprengung" für Weiss "ein mehr als zehn Jahre andauernder Prozess" gewesen: "Der inneren Wahrheit des Romans tut das aber keinen Abbruch".

Dabei möchte ich gerne auch bleiben, auch wenn der Biograph Günter Schütz mindestens zweimal feststellt, dass es schon erstaunlich sei, "mit wie wenig Wirklichkeitsrückständen" Weiss' "Text auskommt", oder andersherum ausgedrückt, "auf welche Weise auch nicht erlebtes reales Geschehen" ebenfalls "zum Material wird". Weiss bastelte sich also nicht nur aus verschiedenen eigenen Erlebnissen neue, im jeweiligen literarischen Kontext passendere zusammen, sondern 'erlebte' im Schreibprozess auch solche Ereignisse, bei denen er gar nicht zugegen war. Doch rein 'erfunden' hat er nichts, fast immer gibt es Archivalien, die uns einen "Einblick in die Schreibwerkstatt, in das Schreibverfahren von Weiss ermöglichen". Weiss' reproduktive Fantasie war dokumentengeleitet, insofern sind innere und äußere Wahrheit oft gar nicht so weit voneinander entfernt.

Günter Schütz präsentiert in seiner Arbeit alle Fakten und Dokumente, die er in mehr als zehnjähriger Sammelarbeit zum Thema "Weiss und Paris" zusammengetragen hat. Sein Vorgehen ist positivistisch, d. h. er sammelte zunächst einmal die objektiven Spuren, die sich von den "Lebensumständen" des Autors erhalten haben. Diese werden dann in Beziehung zu den literarischen Zeugnissen gesetzt, in denen Weiss diese Lebensumstände verarbeitet hat. Dabei können und müssen wahrscheinlich Irritationen auftreten: Es sei "die durchaus nicht unkritisch hinzunehmende Fähigkeit von Weiss zu bewundern, aus wie wenig ereignishaltigem Material er sprachliche Gebilde schafft, die ein größeres Publikum interessieren könnten. Dabei muß in Kauf genommen werden, daß sie vom Biographen nur unter erheblichen Schwierigkeiten und mit der allergrößten Vorsicht als lebensgeschichtliche Quellen zu verwenden sind, vor allem in Hinblick auf die 'äußeren' Daten."

Dieser Satz verdeutlicht eine Qualität der Studie: Schütz bewundert einerseits die Weiss'sche Imaginationskraft, er steht ihr aber nicht unkritisch gegenüber. Im Effekt neutralisieren sich die Haltungen zu einer Neutralität bei der Präsentation von Funden und Widersprüchen. Genauigkeit im Faktischen herrscht vor. Sein Geschäft begreift Schütz erklärtermaßen als das eines "Biographen", zumindest als das eines Dokumentaristen, der 'Bausteine' (nicht "Prolegomena") für eine künftige Biografie zu liefern vermag. Was die ästhetik-geschichtliche und interpretatorische Ausdeutung der Fakten angeht, hält sich Schütz zurück, nicht zuletzt, weil er um die besondere Crux biografisch orientierter Forschung weiß:

"Mir ist auch die Gefahr bewußt, daß, hat man erst einmal diese Paris-Perspektive eingenommen, die mein Thema verlangt, [man] nicht immer vor der Versuchung gefeit ist, um jeden Preis den Nachweis führen zu wollen, hier in Paris sei für Weiss der Keimort all seines Schreibens gewesen." Diese Äußerung leitet einen Abschnitt zu den Holocaust-Diskussionen in der französischen Gesellschaft bzw. unter in Frankreich lebenden Künstlern ein, die Schütz für sein Kapitel zur "Ermittlung" nutzt. Seine Attitude ist hier nicht besserwisserisch, sondern bietet nur Material für die eigene Reflexion und beleuchtet vor allem einen weiteren möglichen Hintergrund zur Entstehung der "Ermittlung". Die Äußerung macht aber auch deutlich, dass sich Schütz der Bedingtheit seiner Aussagen bewusst ist: Dem unbefangenen Leser wird sich mitteilen, dass "die Stadt" (ein Hauptmotiv von Weiss in den 1950er Jahren) bei Schütz immer Paris ist, bei Anne Bourguignon ("Der Schriftsteller Peter Weiss und Schweden", 1997) dagegen immer Stockholm. Und wer hat Recht? Natürlich haben beide Recht: Es kommt halt auf die "Perspektive" an.

Peter Weiss hat sich einmal als "Seismograph" bezeichnet - das stimmt vermutlich: Er war weit früher, als er es selber wusste und bewusst praktizierte, ein "Chronist, der gemeinsames Denken" wiedergeben wollte. Welche Umwege die Arbeit an Texten, die diesem Ideal gehorchen, nehmen musste, zeigt uns die Studie von Günter Schütz. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung, die der Autor uns verspricht. Denn in den 1970er Jahren wurde der Abstand zwischen Literarisierung und Erlebnis, wie mir scheint, bei Weiss noch weitaus größer als in den 1950er und frühen 1960er Jahren.

Titelbild

Günter Schütz: Peter Weiss und Paris. Prolegomena zu einer Biographie. Band 1: 1947-1966.
Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2004.
426 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 3861103656

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