Digitale Poesie - ein Genre sucht seine Theorie

Ein zweisprachiges Handbuch zur digitalen Poesie macht Lust auf mehr

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein "grundlegendes Handbuch" verspricht der Klappentext dem Leser, und nach der Lektüre des knapp 330 Seiten umfassenden Katalogbuches (deutsch/englisch) gelangt man doch zu der ungewöhnlichen Einsicht, dass die Marketingabteilung des Stuttgarter Cantz-Verlages Recht behalten hat. "p0es1s. [sic!] Ästhetik digitaler Poesie", so der Titel des Bandes, der anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im letzten Jahr im Berliner Kulturforum erschien. Es ist kein Ausstellungskatalog, der die Werke dokumentiert - im Gegenteil geizt er leider etwas mit Abbildungen -, sondern ein Reader, der eine Grundsatztagung der Gruppe um den Kasseler Friedrich W. Block, die Erfurterin Christiane Heibach und die mittlerweile in Maastricht lehrende Karin Wenz dokumentiert.

Diesen Grundsatzcharakter belegt das Buch durch eine Vielzahl thematisch und strukturell unterschiedlicher Texte von Künstlern und Wissenschaftlern. Deutlich wird die Internationalität der Szene, die sich seit einigen Jahren im Netz, auf Tagungen, in Büchern und zu Ausstellungen trifft (vgl. dazu den Beitrag von Friedrich Block in dieser Ausgabe). Ebenso vielfältig wie die Nationalität der Beiträger ist auch ihre fachliche Provenienz: Literatur-, Medien- und Kunstwissenschaftler beteiligen sich ebenso am interdisziplinären Diskurs wie Netzkünstler, Literaten und bildende Künstler. Deutlich wird die Transdisziplinarität der digitalen Poesie, deren Probleme und ästhetische Fragestellungen, aber auch künstlerische Zielsetzungen von den Autoren aufgegriffen und produktiv problematisiert werden.

Dies gilt besonders für die Einleitung, die als Einführung in das Themengebiet gelesen werden kann. Als wichtige Paradigmen werden u. a. die Verbindung von Sprache und Bild im Medium des Computers diskutiert - wobei das Digitale als verbindende Größe verstanden wird - und historische Anbindungen an die seit der Erfindung des Computers existierenden künstlerischen Experimente einer kritischen Betrachtung unterzogen. Thema sind darüber hinaus Verbindungen zur nationalen und internationalen Literaturgeschichte und eine Begriffs- und Gegenstandsproblematisierung zwischen bildender Kunst und Literaturwissenschaft. Diese Ausführungen geben einen kurzen Einblick in die künstlerische Entwicklung und wissenschaftliche Reflexion, die sich beide mitunter nicht mehr trennen lassen. Die Herausgeber verstehen die digitale Poesie als Weiterentwicklung "innerhalb medienorientierter beziehungsweise experimenteller Sprachkunst". Medialer Selbstbezug, Prozessualität, Interaktivität, Hypermedialität und Vernetzung sind die zentralen ästhetischen und analytischen Kategorien, die einführend und in den folgenden Beiträgen in unterschiedliche Schwerpunktsetzungen diskutiert werden. Die künstlerischen und theoretischen Beiträge der knapp 15 Autoren verdeutlichen das notwendige und von Christiane Heibach auch für die Tagung festgestellte Bemühen um Grundsätzliches. Dies betrifft nicht nur die Reichweite und Erweiterungsbedürftigkeit vorhandener Begriffe und Instrumentarien, sondern auch die Notwendigkeit, neue epistemische Begriff ("Biopoesie" - Eduardo Kac) zu prägen.

Mit dem Gespräch über digitale Poesie wird nicht nur eine durch die neuen Medien möglich gewordene Gattung auf den Prüfstand gestellt, auch lieb gewonnene Begriffe und Analyseinstrumentarien müssen ihre grundsätzliche Haltbarkeit erweisen. Dieser doppelte Charakter macht die Lektüre des Buches nicht nur für eingeweihte Freude der digitalen Poesie zu einem besonderen Lese- und Denkereignis - mit Erkenntnisgewinn.

Titelbild

Friedrich W. Block / Christiane Heibach / Karin Wenz (Hg.): pOes1s. Ästhetik digitaler Poesie. Zur Ausstellung im Kulturforum Berlin 15.10. - 23.11.2003.
Hatje Cantz Verlag, Stuttgart 2004.
330 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 377571345X

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