Einführung für Profis

Petra Gehrings Foucault-Relektüren

Von Patrick BaumRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Baum

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michel Foucault gehört fraglos zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts. Die seinem Werk gewidmete oder von ihm beeinflusste Literatur nimmt in den Bibliotheken mittlerweile ganze Regalwände ein. Es steht zu vermuten, dass die Rezeption im Zuge der sukzessiven Veröffentlichung seiner am Collège de France gehaltenen Vorlesungen noch zunehmen wird. Die Wirkung der foucaultschen Thesen und Begriffe ist dabei nicht auf die Philosophie beschränkt, auch in der Literaturwissenschaft, Historik oder Soziologie gehören Begriffe wie Diskurs, Dispositiv oder Episteme mittlerweile zum unverzichtbaren methodologischen Repertoire. (Für den deutschen Sprachraum ließe sich sogar sagen, dass die Rezeption in den Kulturwissenschaften früher einsetzte und wesentlich offener und breiter angelegt war als in der Philosophie, in der der französische Denker unter Antihumanismus- und Irrationalismusverdacht stand und zum Teil noch steht.) Die Beliebtheit Foucaults täuscht etwas darüber hinweg, dass seine Bücher - schon aufgrund des Reichtums des in ihnen verhandelten Materials - durchaus keine leichte Lektüre sind. Foucault ist ein Denker, "der mit seinen Materialbergen einen Kontinent für sich bildet" (Walter Reese-Schäfer). Entsprechend groß ist der Bedarf an 'Karten' (Einführungen und Überblicksdarstellungen), die bei der Durchquerung dieses Kontinents helfen.

Die Darmstädter Philosophieprofessorin Petra Gehring legt nun mit "Foucault - Die Philosophie im Archiv" eine Überblicksdarstellung vor, die zwei Aufgaben erfüllen soll: Einerseits ist sie, so die Verfasserin in der Einleitung, dezidiert "in einführender Absicht geschrieben", soll aber andererseits auch eine "kritische Ergänzung zur bestehenden Foucault-Literatur" und eine "Neulektüre" des Werks sein. Diese beiden Aufgaben sind nicht leicht miteinander zu vereinbaren: Von einer Einführung erwartet man nicht unbedingt einen originellen Zugriff auf das behandelte Thema. Vielmehr soll ein erster, kursorischer Zugang ermöglicht werden; didaktisch begründete Verkürzungen sind dabei nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern vielfach auch geboten: Möglichst voraussetzungslos soll den mit der Theorie noch nicht vertrauten Lesern ein Weg ins Werk gebahnt werden. Eine kritische Ergänzung der bisherigen Forschungsliteratur hingegen rechnet doch eher auf Leser mit Vorkenntnissen: Eine Neulektüre kann doch nur der schätzen, der die ,alten' Lektüren schon kennt. Wer nun diese beiden Zielgruppen mit je unterschiedlicher Erwartungshaltung zugleich anpeilt, läuft Gefahr, beide zu verfehlen: Der Anfänger wird womöglich mit Hinweisen auf intrikate Interpretationsfragen überfordert, bevor er wenigstens ein vorläufiges Verständnis des Diskutierten gewonnen hat, der Initiierte hingegen mag von der x-ten Paraphrase der abendländischen Epistemai gelangweilt werden. Wie gelingt nun der Verfasserin der Spagat zwischen Einführung und Neulektüre?

Beim Lesen fällt sogleich ins Auge, dass Petra Gehring sich, den einleitenden Bemerkungen zum Trotz, wenigst unbewusst für eine der beiden Zielgruppen entschieden hat. Ihr Buch ist keine 'klassische' Einführung (derer es ja auch schon einige brauchbare gibt, etwa die von Hans Herbert Kögler, bei Metzler verlegt, oder den Junius-Band von Hinrich Fink-Eitel). Programmatisch verzichtet die Verfasserin auf die für Einführungen übliche traditionelle Orientierung an Vita oder Werkchronologie zugunsten von "Gegenstandsfeldern". Auch im Detail zeigt sich, dass der Text bei seinen Lesern einiges voraussetzt: So fällt etwa die Zusammenfassung der Kerngedanken von "Die Ordnung der Dinge" recht knapp aus. Im Zusammenhang mit der Charakterisierung der klassischen Episteme heißt es da: "Das rationale Wesen der klassischen Welt ist nicht (wie noch in der Renaissance) ein Kosmos von Ähnlichkeiten". Was in diesem Kontext mit "Kosmos der Ähnlichkeiten" gemeint ist, erschließt sich nur dem, der die entsprechenden Kapitel des diskutierten Werks gelesen hat, denn die vorklassische Episteme ist zuvor expressis verbis gar nicht eigens thematisiert worden. An anderer Stelle werden eher beiläufig Bezüge zur Vernunftkritik des späten Heidegger geknüpft, ohne dass diese weiter ausgeführt würden. Bei einer Darstellung "in einführender Absicht" wäre aber, gerade bei einem so schwierigen Denker wie Heidegger, ein kleiner Exkurs vonnöten, der dieses Denken charakterisiert und verortet (sofern man nicht ohnehin auf Bezüge dieser Art verzichtet). Leser, die das Buch als eine erste Einführung in das foucaultsche Denken lesen wollen, müssen daher wahrscheinlich ein gewisses Maß an Frustrationstoleranz aufbringen.

Für Leser mit Vorkenntnissen ist das Buch aber fast uneingeschränkt zu empfehlen: Petra Gehring legt eine gewinnbringende und konzentrierte Lektüre der Werke Foucaults vor. Die Organisation seines Denkens nach den Gegenstandsfeldern "Schweigen", "Ordnung", "Körper" und "Macht" ist überzeugend; die Verfasserin verknüpft dabei sinnvoll Texte, die unterschiedlichen Schaffensperioden zugerechnet werden, und legt so rote Fäden frei, die sich durch das Werk Foucaults ziehen. Auch die schon im Titel vollzogene Aufwertung des Archivbegriffs, der in der Literatur in der Tat vernachlässigt wird, regt zur Überprüfung der eigenen Foucault-Lektüre an. Zu bedauern ist allerdings, dass so ein wirkmächtiger Begriff wie der der Heterotopie nahezu unberücksichtig bleibt; er wird zwar im Begriffsregister aufgeführt (als "Heterotop"), taucht aber im Text nur an einer Stelle und eher beiläufig auf, ohne näher thematisiert zu werden. Im Zuge des gegenwärtig zu beobachtenden "topological turn" (Peter Matussek) in den Kultur- und Sozialwissenschaften gewinnt dieser schillernde Begriff zunehmend an Bedeutung und hätte schon vor diesem Hintergrund eine ausführlichere Behandlung verdient.

Titelbild

Petra Gehring: Foucault - Die Philosophie im Archiv.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
164 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3593373939

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