"Das ausländische Personal ist zum großen Teil ungeeignet für unsere deutschen Anforderungen"

Medizin und Zwangsarbeit im deutschen Faschismus

Von Hanna ChristiansenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hanna Christiansen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den von Bodelschwingh'schen Anstalten Bethel, der größten diakonischen Einrichtung für körperlich und seelisch behinderte Menschen in Europa, gilt und galt, dass jeder Mensch seine Würde hat und ein Geschöpf Gottes ist, egal ob behindert, gesund, krank, begabt oder benachteiligt. In Bethel galt ebenfalls, dass Zwangsarbeiter während der Zeit des deutschen Faschismus billige und bequem zu ersetzende Produktionsmittel waren. Heutige Schätzungen gehen davon aus, dass etwa zehn bis fünfzehntausend Zwangsarbeiter in "diakonischen Heil- und Pflegeanstalten, auf kirchlichen Friedhöfen und Waldungen sowie auf landwirtschaftlichen Gütern, in 'Herbergen zur Heimat' und Pfarrhaushalten Zwangsarbeit leisteten."

Mit dem Buch "Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus" legen Andreas Frewer und Günther Siedbürger einen Sammelband vor, der den bislang noch wenig erforschten Einsatz von Zwangsarbeitern im Gesundheits- und Gemeinwesen untersucht. In 16 Beiträgen wird die vielfältige Ausnutzung ost- und westeuropäischer Zwangsarbeiter in Krankenhäusern, kirchlichen und universitären Einrichtungen dargestellt. Großes Verdienst aller Autoren ist ihre Erschließung schwer zugänglichen Quellenmaterials sowie eine Fachdisziplinen übergreifende wissenschaftshistorische Perspektive. Das Ziel der Herausgeber, laufenden oder in Planung begriffenen Forschungsprojekten mit diesem Band neue und weiterführende Impulse zu geben, wird überzeugend erreicht. Durch das gelungene Wechselspiel und Ineinandergreifen positivistischer und mentalitätsgeschichtlicher Zugänge verdichten sich die einzelnen Facetten der Zwangsarbeit zu einem umfassenden Bild, welches die Ausmaße dieser Form der Sklaverei erahnen lässt.

Im ersten Teil der wenig überzeugenden Zweiteilung des Buches stünden die "Regionen und Gaue", in denen Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, im Vordergrund; im zweiten "ethisch-moralische Probleme". Die Stärke des Buches liegt aber gerade darin, dass strukturelle Voraussetzungen und rassistische Ideologie nicht getrennt vom Phänomen Zwangsarbeit verhandelt, sondern in ihrem Bedingungsgefüge dargestellt werden, so dass der Leser zwangsläufig auf die Frage zurückverwiesen wird, wie solcherlei Handeln auch heute noch möglich ist. Explizit greift dies Wolfgang Frobenius mit seinem Verweis auf die Experimente von Milgram zum Autoritarismus auf. Diese Frage ist in Bezug auf die Ärzteschaft mit einer besonderen Brisanz verbunden, gilt die medizinische Heilkunde doch als philantropischer Beruf schlechthin, wenngleich seit den Forschungen der Mitscherlichs, Ernst Klees und anderer natürlich die massive Verwicklung von Medizinern in die Verbrechen des deutschen Faschismus bekannt ist. Diese Verwicklungen werden auch im vorliegenden Band von den Autoren aufgegriffen, wobei hier insbesondere die Situationen der Ostarbeiterinnen fokussiert werden. Diese wurden nicht nur als Untersuchungsobjekte, so genannte "Hausschwangere", missbraucht, sondern waren allen Formen eines rassistischen und ausbeuterischen Systems unterworfen und somit Zwangsabtreibungen und -sterilisationen hilflos ausgeliefert. Die Säuglinge von Ostarbeiterinnen, die trotzdem zur Welt kamen, scheinen systematisch vernachlässigt oder gar zu medizinischen Forschungszwecken missbraucht worden zu sein, wie Bernhild Vögel in ihrem Beitrag darlegt. Ebenfalls ohne jede Chance waren psychisch erkrankte Zwangsarbeiter. Wie eine Vielzahl der Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen wurden auch sie beispielsweise in der Landesheilanstalt Hadamar ermordet.

Insgesamt führt einem die Lektüre dieses Buches erneut die weitläufigen und systematischen Verflechtungen von Universitäten, Krankenhäusern, diakonischen und anderen Einrichtungen des öffentlichen Lebens mit dem faschistischen System vor Augen und weist darauf hin, wie viel Erinnerungsarbeit auch in Zukunft noch zu leisten sein wird.

Titelbild

Andreas Frewer / Günther Siedbürger (Hg.): Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von "Ausländern" im Gesundheitswesen.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
415 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3593376261

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