Kaleidoskop statt Kompendium

Der Sammelband "Herkünfte" bietet viele interessante Studien zu einzelnen Autoren, aber einen größeren Zusammenhang gibt es nicht

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt verschiedene Sammelbandtypen; als wichtigste den klassischen, der, aus einem Anlass geboren, einen bunten Strauß Aufsätze zusammenbindet, und den avancierten, der sich um Abstimmung der Beiträge und ein methodisch grundlegendes Vorwort bemüht. Die vorliegende Aufsatzsammlung hat ein solches Vorwort, doch tendiert sie insgesamt eher zur klassischen Form, nicht zuletzt, weil sich der Band und die ihm vorausgegangene Tagung dem 60. Geburtstag eines verdienten Literaturwissenschaftlers verdanken - geeehrt wird Bernhard Greiner.

Nachdem nun die Herkunft des Bandes geklärt wurde - was sagt der Band über welche der titelgebenden "Herkünfte" aus? Das Vorwort der Herausgeber beginnt programmatisch mit einem exemplarischen Fall, mit der Herkunft Astrid Bouteuils, der - wie sie später herausfinden sollte - unehelichen Tochter des großen Charles Lindbergh. Hingewiesen wird auf die Möglichkeiten der modernen Medizin, schnell und unproblematisch durch DNA-Tests die Abstammungsfrage zu klären. Wie die kürzlich in den Medien hochgekochte Debatte über Vaterschaftstests gezeigt hat, handelt es sich um ein unerhört aktuelles Thema, dem der Band mit seinem Erscheinungsjahr 2004 weit voraus war. Schade, dass das Vorwort der vier Herausgeber nach drei Seiten abbricht. Denn damit endet auch der nähere Zusammenhang.

Es folgen Einzelbeiträge zu unterschiedlichen Autoren und Sub-Themen, von Homers "Odyssee" über Spyris "Heidis Lehr- und Wanderjahre" bis Walsers "Ein springender Brunnen", vom poststrukturalistischen Räsonnieren (über die "Herkunft der Rede", von Bettine Menke) über philosophische Betrachtungen (zu Nietzsche, von Barbara Thums) bis zu intertextuellen Lektüren (z. B. zu Martin Walser, von Nicola Kaminski). Es findet sich sogar ein sehr interessanter Beitrag über den "Ort des Körpers im zeitgenössischen Tanz" (von Gerald Siegmund). Man sollte sich aber spätestens an dieser Stelle von der Suche nach Einheitlichkeit verabschieden und die einzelnen Beiträge für das schätzen, was sie ganz individuell zu bieten haben.

Da es 15 an der Zahl sind, verbietet sich aus Ermüdungsgründen der Leser eine ausführliche Beschreibung oder gar Auflistung. Doch drei Beispiele (die keine Abwertung der anderen implizieren, alle haben ihre Vorzüge) sollten erlaubt sein. Paul Michael Lützeler überschreibt seine Ausführungen schlicht mit "Hermann Broch, ein Autor aus Wien", doch verbirgt sich dahinter ein sehr informativer und origineller Blick auf Brochs Biografie, gespeist von Informationen aus erster Hand. Wie man erfährt, hat Lützeler nicht nur über Broch promoviert, sondern seinerzeit auch für einen Zeitschriftenbeitrag aufschlussreiche Recherchen betrieben, denn: "Zwei Jahrzehnte nach Brochs Tod lebten noch viele Schriftsteller aus seinem Bekanntenkreis." Lützeler traf Friedrich Torberg, Elias Canetti und andere Geistesgrößen, man staunt und freut sich über den fast intimen Blick hinter die Kulissen.

Hans-Georg Kemper liest und interpretiert Walter Jens' Roman "Der Mann der nicht alt werden wollte" von 1955, ein echter Tipp für alle, die Jens nicht als Romanautor kennen. Dieser Text ist, wie Kemper überzeugend nachweist, höchst anspielungsreich: Ein Literaturprofessor versucht den Selbstmord eines bedeutenden Autors zu klären, der scheinbar einfache Fall entpuppt sich als verwirrendes Vergangenheitspuzzle, dessen vom Leser zu erschließender Mittelpunkt die Auseinandersetzung mit dem Holocaust darstellt. Thematisch verwandt ist der Beitrag von Verena Olejniczak Lobsien, sie stellt die Frage nach dem "Chronotopos der Heimatlosigkeit bei W. G. Sebald". Der Beitrag vollzieht eine genaue Lektüre verschiedener Sebald-Texte und legt dabei zahlreiche wichtige Anspielungen und Bedeutungsschichten offen. Höhepunkt ist die Interpretation von Sebalds letztem Roman "Austerlitz", dessen komplexer Inhalt bündig zusammengefasst und dessen ausgefeilte Symbolik exemplarisch offen gelegt wird.

Wäre der enzyklopädisch klingende und sicher verkaufstechnisch attraktive Titel vermieden worden, dann gäbe es kaum etwas zu monieren. So mag sich mancher Leser in die Irre geführt sehen, also nicht zu den Wurzeln der Herkunft, denen er auf der Spur zu sein glaubte, sondern in einen Garten, in dem Karotten neben Tulpen wachsen. Doch wer sich für Fallstudien interessiert, die sich Herkünften verschiedenster Autoren und Figuren widmen, der wird in ein faszinierendes Kaleidoskop blicken und sich diese Puzzlesteine der Herkunft so zusammensetzen, wie er es für richtig hält.

Titelbild

Barbara Thums / Volker Mergenthaler / Nicola Kaminski / Doerte Bischoff (Hg.): Herkünfte: historisch - ästhetisch - kulturell. Beiträge zu einer Tagung aus Anlass des 60. Geburtstags von Bernhard Greiner.
Herausgegeben von Barbara Thums, Volker Mergenthaler, Nicola Kaminski und Doerte Bischoff.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2004.
359 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 3825316246

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