Herzschmerz ohne Infarkt

Angeles Mastrettas "Emilia" erzählt eine Familiengeschichte mit Temperament und Leidenschaft

Von Heike SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie liebt ihn, sie liebt ihn nicht. Eine wunderschöne Frau zwischen zwei Prachtkerlen, der eine wild und leidenschaftlich, der andere erfolgreich und besonnen. Beide lieben sie, aber sie kann sich nicht entscheiden. Das hört sich erst einmal nicht so an, als erfände Angeles Mastretta mit "Emilia" den Liebesroman neu. Das hört sich vielmehr nach einer weiteren süßlich-verklebten Liebesschnulze mit gnadenlosem, romantisch-verklärten Happy-End an, wie man sie sich am besten inmitten einer Midlife-Crisis reinzieht, damit man wenigstens weiß, warum man sich so beschissen fühlt. Auf, auf in den Buchstabenkampf auf 412 Seiten.

Unsere Titelheldin heißt Emilia. Der Leser lernt sie am Tage ihrer Geburt kennen. Über ihre Eltern, Diego und Josefa Sauri, erfährt man schon vorher einiges. Vater Sauri wurde auf einer kleinen karibischen Insel vor der Küste Mexikos geboren. Früh entdeckt er hier seine Begabung, Krankheiten zu heilen, und macht sich auf der Insel mit heranwachsendem Alter schnell einen Namen. Diese Begabung wird ihm zum Verhängnis. Auf seiner Rückkehr von Krankenbesuchen wird er überfallen und auf einem Schiff nach Nordeuropa verschleppt. Erst mit 27 Jahren kehrt er in seine Heimat Mexiko zurück. Dort lernt er Josefa kennen, heiratet sie, eröffnet in Puebla eine Apotheke und bekommt schließlich mit ihr das heißersehnte Kind, Tochter "Emilia". Emilia wächst in einem politisch engagierten und diskussionsfreudigen Elternhaus auf. Früh kann sie sich für die krankheitsheilenden Mixturen ihres Vaters begeistern, liebt Musik und Literatur. Jeden Sonntag finden Treffen mit anderen Familien im "Sternenhaus" der Sauris statt, hier wird gemeinsam musiziert, debattiert und diskutiert. Schon früh lernt Emilia dabei den Sohn des Doktors Cuenca kennen, Daniel. Die beiden verbindet schnell eine innige Kinder - und Jugendfreundschaft. Die politische Lage Mexikos ist zu dieser Zeit schon sehr instabil, und aus den vergnüglichen Sonntagstreffen sind über die Jahre hinweg hitzige Politikdebatten revolutionsbestrebter Demokraten geworden. Auch Daniel hat sich als "leidenschaftlicher Mitstreiter in die Wirren der mexikanischen Revolution" gestürzt. Obwohl zwischen den beiden eine leidenschaftliche Liebe entsteht, verläßt Daniel seine Emilia, um für den Revolutionsgedanken zu kämpfen. Daniels Abenteuerlust und Freiheitsdrang, die verheerende Lage Mexikos, Emilias Zukunftsangst und die Sorge um Daniel zwischen den Kriegsfronten stellen ihre Liebe auf eine harte Zerreißprobe. Während Daniel für die Revolution an oberster Stelle kämpft, arbeitet Emilia hart an ihrem Berufsziel: Ärztin.

Angeles Mastretta wurde für ihren Roman "Emilia" als erste Frau mit dem lateinamerikanischen Rómulo-Gallegos-Preis ausgezeichnet. Selbst in Pueblo geboren, dem Schauplatz ihres Romans, konnte sie aus einer sehr persönlichen Sicht die Geschichte von "Emilia" und ihrer Familie schreiben. Sie erzählt Emilias Leben und von ihrem Umfeld so leidenschaft-lich und temperamentvoll, als hätte sie aus nächster Nähe mitgefiebert und mitgelitten. Mit Emilia entwickelt sie keinesfalls, wie eingangs befürchtet, einen langweiligen Abklatsch des Typus Frau, wie er in vielen modern-populären Romanen abgefeiert wird - zum Erbrechen schön und selbstbewußt und geil auf die Männerwelt. Die Autorin erzählt die Geschichte einer Familie - eines Lebens. Es bleibt dabei, daß auch dieses Romangenre nicht unbedingt neu ist, aber nicht immer geht eine so große Anziehung von der Lebensgeschichte einer Romanfigur aus. Sicherlich spielt dabei auch das dramatische zeitgeschichtliche Umfeld der Erzählung eine brisante Rolle. Es verhilft der Geschichte und Emilia zu mehr "Tiefgang" und Charakter. Mit den verschiedenen Romanfiguren schafft es Angeles Mastretta, unterschiedliche Werte und Lebensziele zu entwickeln. Der Leser selbst kann entscheiden, wessen Lebensphilosophie ihm am nächsten steht und sich in den Roman einfinden, indem er seinen persönlichen "Liebling" krönt. Egal ob man sich über die wenig entscheidungsfreudige Emilia ärgert, über ihre ängstliche Mutter lächelt, dem freiheitsgierigen Daniel zustimmt oder den treuen Antonio für dumm hält - in diesem Roman findet jeder seinen eigenen Helden.

Mit der ausgewogenen Prise Romantik und einem guten Schuß Leidenschaft ist dieser Roman auf jeden Fall etwas fürs Herz, ohne mit überschüssiger Süße die Herzklappen zu verkleben.

Titelbild

Angeles Mastretta: Emilia. Aus dem Spanischen übersetzt von Petra Strien.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
412 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3518409719

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