Utopische Sendungen

Iso Camartins Buch "Belvedere" lädt zum zweckfreien Nachdenken über das Fernsehen ein

Von Michael SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht eine Zeile in diesem Buch liest sich wie eine praktische Handreichung für die Zuständigen beim Fernsehen, so wie es ist; keiner der acht Essays, die der Schweizer Publizist und Literaturwissenschaftler Iso Camartin in diesem schmalen Band versammelt hat, und auch nicht das Vorwort lassen irgendeinen Zweifel daran, dass sie die Grenzen überschreiten wollen, die von der Mattscheibe gesteckt werden, dass sie also eher eine Kluft markieren, als sich auf einen Ist-Zustand beziehen möchten. Und - davon wird niemand überrascht sein - genau das macht die Qualität dieses Buches mit dem doch eher provozierenden Untertitel aus. Als Leser sollte man allerdings bereit sein, einen Schritt zunächst ohne Vorbehalte mit zu gehen: das Wort "Fernsehen" nämlich klein und getrennt zu schreiben, und dann mit dem "fern sehen" gewissermaßen neu zu beginnen.

Das "schöne Fernsehen", über das Iso Camartin anschließend spekuliert und für das er Geschichten entwirft, die via Bildschirm zu erzählen möglicherweise lohnen könnte, wäre ein Fernsehen, das sich wieder auf seinen Hallraum tief verankerter kultureller Traditionen besinnen sollte - ohne dabei in jeder Einstellung und in jeder Moderation Bildung vorführen zu wollen. Camartin plädiert für Programme, die über dem Spiel mit den Bildern und mit den Aktualitäten nicht aus dem Auge verlieren, welches Erbe, wie viele Topoi und wie viele Mythen in jeder Story verborgen sein können. Er entwirft dies aus der Erfahrung heraus, die er vier Jahre lang als Leiter der Kulturprogramme des staatlichen Schweizer Fernsehens gesammelt hat. Den Texten liegen in einigen Fällen daher auch Ideen zugrunde, die tatsächlich ausprobiert worden sind.

Allen Essays gemeinsam ist, dass sie versuchen, über jenen Tellerrand hinauszuschauen, den die selbstreferenziellen Zusammenhänge in einer Redaktion üblicherweise definieren. Starke Bilder, starke Eindrücke, so Iso Camartin, kann man in solchen Büros kaum erwarten. Man braucht sie aber, wenn Fernsehen als Rahmen für Möglichkeitswelten konzipiert werden soll, in denen jeder Zuschauer ein Angebot findet, um seine eigenen Ideen weiterzuspinnen; wenn immer neu unerledigte Geschichten, also Mythen im klassischen Sinne, erzählt und durch fantasievolle Metamorphosen gejagt werden sollen; wenn innere Bilder mit der Kamera eingefangen werden sollen, statt nur abgenutzte Reiz-Reflex-Inszenierungen zu senden. Nur einem solchen Fernsehen kann gelingen - und das ist nicht ohne erhebliches Pathos gesagt - was die genuine Leistung große Kunst ist: Dass sie nämlich sogar noch das spürbar machen und wachrufen kann, woran es ihr selber mangelt. Das ist eine Utopie und will es auch sein; das ist bis auf weiteres natürlich auch keine Dienstanweisung an einen Regisseur oder Kameramann.

Iso Camartin hält sich denn auch gar nicht erst mit der Beschreibung dessen auf, was Fernsehen heute für die meisten "Bildungsmenschen" so problematisch macht - und erfreulicher noch: Er reitet auch keine Attacken gegen einen ebenso ängstlichen wie populistischen Medienapparat. Er plaudert statt dessen scheinbar locker drauflos und hangelt sich dabei zügig vom Reiz des Neuen und von der Suggestion der unmittelbaren Teilnahme an fernem Geschehen zu den Reiseberichten des Marco Polo aus dem 13. Jahrhundert oder zu den Bildungsdiskussionen des 18. Jahrhunderts weiter. Mag sein, dass dem Leser - und mehr noch dem professionellen Fernsehmacher - darüber schnell Hören und Sehen vergehen können; aber die Gefahr ist gering, denn Iso Camartin hat eine leichte Hand im Umgang mit gewichtigem Kulturgut.

Fernsehen, so wie Camartin es sich wünscht, wäre ein Platz, an dem Kunst wieder als Kunst erkennbar werden könnte - und nicht nur als Vorwand für irgend etwas anderes. Er klagt "Verführungskompetenz" und nicht Pädagogik ein, er will den spielerischen Umgang mit dem "Höheren" und nicht den erhobenen Zeigefinger. Man sollte dieses Buch daher auch nicht jener überaus ernsthaften Tradition der Fernsehkritik zurechnen, die schon 1959 mit Hans Magnus Enzensbergers Floskel ihren kleinsten gemeinsamen Nenner definiert hat - dass nämlich das Fernsehen eigentlich noch gar nicht richtig erfunden sei. Camartin lädt zum Spekulieren ein, zum Spaziergehen zwischen Antike und Satellitenprogramm, zum durchaus zweckfreien Nachdenken über Sendungen, die es vielleicht nie geben wird, die man sich aber ausdenken kann, um dann zu merken, was einem fehlt.

Titelbild

Iso Camartin: Belvedere. Das schöne Fernsehen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
156 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 351841688X

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