Genie und Handwerk

Neues aus der Schublade von Helmut Krausser

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Helmut Kraussers Roman "Schweine und Elefanten", 1987/88 als erster Band der "Hagen-Trinker-Trilogie" entstanden, aber erst 1999 erschienen, erzählt der jugendliche Vagant Hagen Trinker, wie bei ihm Gedichte entstehen. Eine seiner Hauptquellen ist Albert, ein heruntergekommener Glücksspieler: "Albert (63) ist der ärmste von den miesen alten Knochen am Parkrandkiosk. Ein Kotzbrocken, übler Intrigant und Nörgler, aber wie er redet, das schwimmt oft auf der Grenze zwischen Debilität und hoher Lyrik, manchmal zieh ich heimlich einen Zettel und schreib das auf, zum Beispiel:

Im September.

Im September fahr ich aufs Turnier nach Salzburg.

In Salzburg.

Da kenn ich eine Frau.

Da kenn ich eine Frau, da wohn ich billig zur Miete.

Ist eine ältere Frau.

15 Mark mit Frühstück.

Einfachem Frühstück.

Kleines Zimmer. Klo aufm Gang.

15 Mark.

Das war hohe Lyrik, wenn auch Albert nichts davon wußte. Solch arabeske O-Töne sammelte ich, nicht gezielt, nicht gesucht, pickte auf, was vorüberkam, für einen großen polyphonen Roman."

Man ist vielleicht geneigt, das autobiografisch zu lesen und für bare Münze zu nehmen. Und tatsächlich ist nun im Münchener Belleville Verlag ein erster Gedichtband Helmut Kraussers erschienen, dessen Texte zum Teil diese schöne Schlichtheit des Fundstücks aufzuweisen scheinen: "Frauen an der Theke, / mit hin und herschwappenden Schenkeln / deren Kniekehlen manchmal grunzen, wenn / sie sich schütteln vor Lachen und ihr / Fleisch gegens Holz / klatscht."

Man täte den Texten jedoch unrecht, sie als Alltagsbilder zu lesen, denn ihre Einfachheit ist hart erarbeitet, ihre Leichtigkeit schwer erkämpft. Ihr Referenzraum ist nicht der Alltag irgendwelcher Penner, sondern ist die Dichtungstradition selbst. Anklänge an Benn ("Sechs Wörter"), an Eichendorff ("Hab mein Zimmer auf dem Globus"), an den Osterspaziergang im "Faust" ("Vom Winde berauscht / sind Bäume und Röcke") machen dies deutlich. Es ist Lyrik im emphatischen Sinne: "Reigen aus unreinen Reimen" heißt ein Gedicht, "Söldnerlied" ein anderes, auch das Sonett ist vertreten. Dieser Band bildet einen Querschnitt aus zwanzig Jahren. Er enthält Texte, die bisweilen zur umbrochenen Prosa, zum Sinnspruch oder zum - nicht selten obszönen - Zweizeiler tendieren.

Gleichsam entschuldigend schreibt Helmut Krausser im Anhang, er habe seine "Napoleonische Anekdote", ein Gedicht aus Jugendtagen, nur aufgenommen, um den Untertitel zu ermöglichen: "Gedichte ´79 - ´99". Gedichte aus zwanzig Jahren also. Aber schon die ›Jugendsünde‹ ist bemerkenswert. Die "Napoleonische Anekdote" ist eine Parodie auf das Erzählgedicht im historischen Gewand, sie ist durchgehend gereimt und hat zwei Protagonisten, die auf Komik deuten: Den Hofzwerg und den Tanzbär des Kaisers. Das Gedicht kann als Referenz ans Handwerk gelesen werden, als Gesellenstück, bevor der Autor in die freie Luftigkeit der ungebundenen Rede abhebt. Durchaus mit Formbewußtsein abhebt.

Die Texte dieses umfangreichen Bandes sind auf zehn Kapitel verteilt, wobei dem letzten Kapitel ein Sonderstatus zukommt: "Detonation Babel" gruppiert die Einzeltexte zum Zyklus, zu einem "Stimmengemenge vom Veteranenstammtisch". Drei mega-alte Herren erzählen aus archaischer Zeit. Sie kennen Atlantis aus eigener Anschauung, sie haben vis a vis des Olymp gewohnt und den Göttern Griechenlands in die Fenster geguckt, sie haben Sodom und Gomorrha als "große Oper" und den Turm zu Babel als heiligen Ort erfahren. Mit kräftigen Strichen wird aus tradierten Mythen, wird aus stereotypen Sagenstoffen neue Poesie gezaubert - ganz leicht, sehr heiter, vielleicht ein bisschen respektlos, aber selbstbewußt und schlüssig in den Mitteln. Dadurch eindrucksvoll. In die dialogische Rede der Alten mischt sich die "Blutmusik" der Ewig-Gestrigen. Die Mythen Griechenlands münden ins Horst-Wessel-Lied. Eine Hörspielversion von "Detonation Babel" wurde 1999 mit dem "Prix d´Italia" ausgezeichnet.

Sehr heutig, aber immer noch morbide, die anderen Themen. Ein Foto der Gladbecker Geiselnahme ziert den Buchumschlag, und gleich zwei Texte thematisieren Silke Bischoff, jene Geisel, die damals - 1988 - auf der Rückbank des Fluchtwagens von Rösner und Degowski zu Tode kam. Zitat: "Atem Silke. [...] Atem / Degowski. Aussichtsloser hat / kein Verlierer je geliebt. [...] Näher / kommen Beinahe und Freiheit / sich nie. Silke. Verdichtung." Eine zynische Liebeserklärung, falls es so etwas gibt. Laue "Befindlichkeiten" sind Kraussers Sache jedenfalls nicht.

Helmut Kraussers Roman "Schweine und Elefanten" erzählt auch von einer Band, "Genie & Handwerk", in der Hagen Trinker als Leadsänger fungiert: Ich "hatte den Übrungsraum besorgt und den Mietvertrag unterschrieben, das machte mich unangreifbar." Diese Band hat in der Wirklichkeit eine Entsprechung - von Helmut Krausser und dem Gitarristen El Conde 1985 gegründet. Offenbar eine wilde Gesellschaft: Der Keyboarder René von Roncador erlag an seinem 24. Geburtstag einem Herzinfarkt. In einer Germeringer Privatwohnung wurden die ersten Tracks aufgenommen, zuerst in Deutsch, später in Englisch. Auch dazu gibt es jetzt eine CompactDisc, "Bootleg" genannt, mit zwölf teils deutschen, teils englischen Songs. Ein sehr gemischtes Programm, das uns für einige Takte an den frühen Bob Dylan, an Tom Waits oder an Alex Turkrock erinnern mag. Ein Song heißt "Modest Mussorgsky" nach einem von Kraussers Hausgöttern; zusammen mit El Conde hat er die Musik geschrieben.

Helmut Krausser, geboren 1964, ist einer der produktivsten Autoren seiner Generation. Sein bisheriges Werk umfaßt sechs Romane, zwei Bände mit Erzählungen, sechs Tagebücher, dazu einige Hörspiele, Theaterstücke und Kompositionen. Es ist schön zu sehen, wie nach und nach auch die Anfänge seines Schaffens ans Licht kommen, die Bootlegs und ersten Gedichte, die frühen Legenden und Selbststilisierungen, die in ein substantielles Œuvre und in "echte" Kompositionen münden - in die CD "Kammermusik", Ergebnis eines Aufenthaltes in der Villa Massimo. Die aber übersteigt des Rezensenten Kompetenz.

Titelbild

Helmut Krausser: Detonation Babel.
Belleville Verlag, München 1999.
1CD, 14,50 EUR.
ISBN-10: 3933510392

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Helmut Krausser: Gedichte `79 - `99.
Belleville Verlag, München 1999.
174 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 393351035X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Helmut Krausser: Genie & Handwerk. Bootleg.
Belleville Verlag, München 1999.
1 CD, 6,80 EUR.
ISBN-10: 3933510368

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Helmut Krausser: Kammermusik.
Belleville Verlag, München 1999.
1 CD, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3933510376
ISBN-13: 9783933510372

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Helmut Krausser: Schweine und Elefanten.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
235 Seiten, 11,20 EUR.
ISBN-10: 3499225263

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