Jenseits von Biologismus und Konstruktivismus

Susanne Lummerding über Cyberspace, Subjektkonstituierung und die Funktion des Politischen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die unendlichen Weiten des Cyberspace sind ein Forschungsobjekt vieler Disziplinen, so auch der Kunstgeschichte, wie die Studie der Kunsthistorikerin Susanne Lummerding über "Cyberspace, Subjektkonstituierung und die Funktion des Politischen" zeigt. Im Zentrum der Arbeit steht die Untersuchung der "Idee 'alternativer' virtueller 'Räume' für die Etablierung bestimmter Konzeptionen von 'Gesellschaft'". Zudem will die Autorin einen Begriff von Handlungsfähigkeit entwickeln, der zwar nicht von der Kategorie des Subjekts zu trennen sei, ohne dass er allerdings auf die Vorstellung von Autonomie rekurrieren müsse.

Da Butlers Ansatz eine anti-essenzialistische Auffassung sexueller Differenz "nicht ausreichend" zu begründen vermöge, rekurriert Lummerding auf Joan Copjec' Verständnis der Kategorie sexueller Differenz und verknüpft dieses mit Laclaus Begriff des Politischen, um so eine neue "Definition des Subjekts als Subjekt des Politischen" zu entwickeln. Gegen Butler und mit Bezugnahme auf Copjec schlägt Lummerding eine "Reformulierung der Kategorie Geschlecht (sex) als 'nicht-signifikante Differenz' vor, die als "Manifestation des Verfehlens von Sprache" zu verstehen sei, das jeden Signifikationsprozess bestimme. Die Kategorie werde der "Notwendigkeit einer Differenzierung" gerecht, ohne die es kein Subjekt geben könne. Doch bezieht sich die so verstandene Kategorie "Geschlecht" nicht notwendigerweise auf Geschlechtszugehörigkeiten wie Mann und Frau. Demzufolge wäre Geschlechtszugehörigkeit die "Einschreibung dieses Verfehlens auf einer soziosymbolischen Ebene", während sexuelle Differenzierung das "Subjekt als Scheitern von Subjektivität" konstituiert. Die entscheidende Bedeutung ihrer Definition von Geschlecht sieht Lummerding darin, dass die Betonung der konstitutiven Funktion des Verfehlens die Begründung eines anti-essentialistischen bzw. anti-biologischen Verständnisses sexueller Differenz ermöglicht. Doch verortet sie ihre Auffassung von sexueller Differenz nicht nur jenseits "zu Recht verabschiedet[er]" biologistischer und essentialistischer Modelle, sondern auch jenseits konstruktivistischer Modelle, welche die Frage nach den Gründen dieser "diskursiven Differenzkonstruktion" nicht hinreichend beantworten könnten.

Eine Berücksichtigung der "Funktion des Realen als konstitutives Moment des Verfehlens" ist Lummerding zufolge nicht nur die "Grundlage für ein Verständnis des Zusammenhangs von 'sexueller' Differenz, Subjekt und Handlungsfähigkeit" sondern auch für die Definition eines Begriffs des Politischen, der sich nicht auf den Bereich des Soziosymbolischen beschränkt, sondern seine Voraussetzungen betrifft. Wichtig bei alledem ist, dass "sexuelle Differenzierung" in Lummerdings Ansatz "die sprachlich bedingte Notwendigkeit einer Differenz als solcher" meint, ohne die Subjektkonstituierung zwar nicht denkbar sei, die jedoch keinen notwendigen Bezug zu Kategorien wie 'Weiblichkeit' oder 'Männlichkeit' impliziere. Damit geht eine Konzeption von Geschlecht einher, der zufolge dieses nicht ein "akzidentielles Attribut des Subjekts´" ist, sondern vielmehr "die der Sprache inhärente Unmöglichkeit, Bedeutung zu 'schließen' bzw. zu 'vollenden'". Als diese Unmöglichkeit sei die Kategorie Geschlecht konstitutiv für das Subjekt. Daher, so argumentiert Lummerding, stelle ihre Konzeption von Geschlecht keine Hierarchisierung dar, die andere Differenzen marginalisiere oder gar unberücksichtigt ließe, sondern schaffe im Gegenteil gerade die theoretische Voraussetzung für eine Argumentation, welche die "Anfechtbarkeit jeglicher Differenzkonstruktion" begründen könne.

Was nun den Cyberspace betrifft, so gilt Lummerdings Interesse der Frage, warum in dessen Kontext ein längst dekonstruiertes "Konzept eines kohärenten und souveränen Subjekts" wiederbelebt wird. Wie inzwischen auch schon andere AutorInnen wendet sich Lummerding vehement gegen einen essentialistisch fundierten Cyberfeminismus, wie er von Sadie Plant und anderen "Cyberspace-ApologetInnen" vertreten wird. Ihnen wirft die Autorin nicht zu Unrecht die "Reproduktion biologistischer - nunmehr mit Technik assoziierter - Weiblichkeit" vor. Doch nicht nur Plant gilt ihre Kritik. Vielmehr ist ihre Arbeit überhaupt durch ein gerüttelt Maß an Skepsis gegenüber cyberfeministischen Ideen gekennzeichnet, welche die "Reproduktion von Weiblichkeits- (und Männlichkeits-)Stereotypen" und die Kategorie des 'Weiblichen' bzw. 'der Frau' kaum problematisierten, sondern sie vielmehr als "konstitutiv für ein - 'weibliches' Subjekt des Cyberfeminismus" setzten. Obwohl Cyberfeministinnen oft die Hybridisierung der Geschlechter für sich in Anspruch nähmen, blieben Genderdichotomien aus Gründen eines strategischen Essentialismus weithin "unangetastet". Zudem sieht die Autorin eine bedenkliche Affinität cyberfeministischer Erwartungen an neue Technologien zur Technologieapologie des " neoliberal-patriarchalischen Lagers". Auch den Klassiker des Cyberfeminismus, Cyborg-Manifesto (1985), trifft Lummerdings Kritik. Haraways Konzept des Cyborgs als "Verkörperung eines 'oppositionellen Bewusstseins'", welche "die Konstruktion eines 'Anderen' als Identifikationsfigur der Selbstermächtigung bzw. als 'Befreiungs'- oder 'Erlösungspotential'" berge die Gefahr einer "Identitätslogik", die der anvisierten Auflösung tradierter Dichotomien entgegenwirke.

Ausführlich entfaltet Lummerding ihre Kritik an den "vielfältig[en], utopisch wie auch dystopisch überfrachtete[n] Projektionen", die mit dem Präfix "Cyber" verbunden sind und wendet sich überhaupt gegen die "Reartikulation und Projektion utopischer Vorstellungen auf das Feld technologischer Entwicklungen".

Bei aller Zurückhaltung gegenüber cyberfeministischen Ansätzen verkennt die Autorin jedoch keineswegs die "politische Relevanz" von "Selbstermächtigungsstrategien", die sich etwa in der Herstellung von Gegenöffentlichkeit, von Netzwerken und entsprechenden Onlineforen niederschlagen.

Wie man sieht, bietet Lummerding reichlich schweren Stoff für Theorie-Hardcore-Fans. Dass aber ein noch so hohes theoretisches Reflexionsniveau nicht notwendig zu klugen Analysen konkreter politischer Ereignisse führt, zeigt Lummerdings Einschätzung, dass der von Bush in Afghanistan und Irak geführte 'Krieg gegen das Böse' "in erster Linie ein Krieg um die Kontrollen über Ölreserven" sei.

Titelbild

Susanne Lummerding: agency@? Cyber-Diskurse, Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen.
Böhlau Verlag, Wien 2005.
320 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3205773276

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