Schiller als Kapitalismuskritiker

KD Wolff hat das "Räuberbuch" neu herausgegeben

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Räuberbuch" ist ein Dokument der westdeutschen Studentenbewegung. Es entstand zwischen 1969 und 1972 aus Materialien germanistischer Basisgruppen an der Universität Freiburg und erschien erstmals 1974. Zusammen mit dem Text des im Faksimiledruck wiedergegebenen Schiller'schen Dramas "Die Räuber" (nach der Erstausgabe im Jahr 1781) hat es der Verleger KD Wolff, einst linker Revolutionär und Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS), jetzt zum Schillerjahr wieder neu vorgelegt - in einer großformatigen, sehr ansprechenden Aufmachung mit leserfreundlicher Schrift und vielen schönen Illustrationen.

Dargestellt wird die methodologische Entwicklung der Germanistik im 19. Jahrhundert in ihren sozial-ökonomischen und politischen Zusammenhängen anhand unterschiedlicher "Räuber"-Interpretationen. Ausgehend von dem von Karl Marx und Friedrich Engels definierten Ideologiebegriff bezeichnen die Autoren die Germanistik ihrer Terminologie und Methode nach als Ideologie des deutschen Bürgertums und bemühen sich, nachzuweisen, dass die bürgerliche Germanistik von ihren Anfängen bis zur Jahrhundertwende als Reaktion auf die Entwicklungsetappen der bürgerlichen Gesellschaft zur Enthistorisierung ihrer literarischen Untersuchungsgegenstände tendierte.

Das deutsche Bürgertum entfaltete im Verlauf des 18. Jahrhunderts überaus rege geistige Aktivitäten, insbesondere im Bereich der Literatur. Seinem kulturellen Aufschwung entsprach kein derartiger Vorgang auf dem ökonomischen und sozialen Gebiet, im Gegenteil: der Druck der feudalabsolutistischen Verhältnisse lastete so stark auf dem Bürgertum, dass es wirtschaftlich und politisch auf dem Weg zu einer einheitlichen, starken und selbstbewussten Klasse nur langsam vorankam. Gleichwohl begann es, seine Klasseninteressen zu artikulieren und ein eigenes Klassenbewusstsein auszubilden. Vor allem im Roman, im Drama und in literarischen Schriften, die sich gegen die feudalstaatliche Zersplitterung des Landes und gegen die damalige Unterdrückungs- und Ausbeutungspraxis wandten, ist dies zu beobachten. Man propagierte bürgerliche Verhaltensweisen, bürgerliche Moral und deren Überlegenheit über die feudale Lebensart. Alle diese Ansätze und Frontstellungen bestimmen auch Schillers "Räuber", die er 1780 in der Karlsschule, fast zehn Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution, niederschrieb. Für zeitgenössische Leser und Zuschauer war sofort klar, dass sich die Aktionen Karl Moors und seiner Gesinnungsgenossen in diesem Theaterstück gegen die Unterdrückung und Ausbeutung des Volks richteten, gegen feudale Klassenjustiz und Staatsverwaltung, mithin gegen Zustände in der sozialen und politischen Sphäre, unter denen auch das Bürgertum in den deutschen Kleinstaaten zu leiden hatte. Immerhin hat sich Schiller in seinem Text genau an das gehalten, was er in Deutschland vorfand. Doch nimmt bei ihm statt einer Schar revolutionärer Freiheitskämpfer eine Räuberbande den moralkritisch motivierten Kampf gegen den Feudalismus auf.

Letztlich verkörpern die Brüder Moor je einen Entwurf bürgerlichen Verhaltens unter den Bedingungen feudalabsolutistischer Herrschaft in Deutschland, befinden die Autoren und sehen in der dramatischen Form der "Räuber" den ästhetischen Ausdruck revolutionärer Bestrebungen des deutschen Bürgertums. Einige Jahre später, 1784, verfasste Schiller dann seine Schrift "Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet", in der er der Bühne eine unmittelbar politische Funktion zuweist und sie als eine den bürgerlichen Idealen entsprechende Gerichtsbarkeit beschreibt, die die feudalen Zustände anprangert und die feudale Justiz ersetzt, die solche Zustände weder verurteilen will noch kann. Außerdem spricht Schiller in diesem Text der Schaubühne die Aufgabe zu, dem Bürger Unterricht in praktischer Lebensführung zu erteilen und ihm zu zeigen, wie er sich aufgrund fehlender ökonomischer und politischer Macht dem feudalen System anzupassen hat, ohne seine eigenen Interessen aufgeben zu müssen.

Schillers Kritik richtet sich nach Meinung der Verfasser diverser Beiträge nicht nur vehement gegen die zurückgebliebene feudalabsolutistische Verfassung, sondern auch gegen erste Auswirkungen kapitalistischer Produktion.

Der Dichter habe die miserablen gesellschaftlichen Verhältnisse analysiert, heißt es weiter, aber auf eine klare Kampfansage an den Feudalismus verzichtet. Seine Ansichten seien im Grunde der theoretische Ausdruck der sozialen Rückständigkeit und der politischen Unreife des Bürgertums. In der widersprüchlichen Situation, in der sich das Bürgertum Ende des 18. Jahrhunderts befand, konnten die bürgerlichen Ansprüche offensichtlich nur als ideale Forderungen aufgestellt werden. Da Schiller letztlich die gesellschaftlichen Widersprüche durch ästhetische Erziehung beheben möchte, statt konkret etwas verändern zu wollen, hilft er nach Ansicht der Verfasser mit, die bestehenden Zustände zu befestigen und Unversöhntes miteinander zu vereinen.

Zwischen 1815 und 1860 entwickelt sich - wie weiter ausgeführt wird - in Deutschland eine nationale Literaturgeschichtsschreibung, deren erste Phase durchaus progressiven Charakter hat, aber in der zweiten Phase reaktionär wird. Schon wenige Jahre nach der gescheiterten Revolution 1848/49 zeigen sich in der Germanistik die ersten positivistischen Ansätze. Während für Germanisten der ersten Phase der praktisch-gesellschaftliche Konflikt in den "Räubern" im Vordergrund steht und das mit dem bürgerlichen Klasseninteresse kaum vereinbarte Aufbegehren Karl Moors gegen den eigenen Vater stillschweigend übergangen wird, verfahren spätere Germanisten zunehmend umgekehrt, um anhand der Unterwerfung Karl Moors im letzten Akt des Stücks die Allgemeingültigkeit bürgerlicher Sittlichkeit zu demonstrieren.

Angesichts der politischen Niederlage des Bürgertums 1848/49 zog sich ein Teil der Literaturwissenschaftler auf sein Fachgebiet zurück und lehnte jede politische Orientierung und gesellschaftliche Betrachtung von Literatur als fachfremd ab. Diese Position entsprach der sich allmählich vollziehenden endgültigen Integration des Bürgertums in den Staat des junkerlich-großbourgeoisen Klassenkompromisses.

Da die vielfältigen Faktoren, die zur Entstehung von Literatur beigetragen haben, von nun an unberücksichtigt bleiben und man sich bei Kausalerklärungen im wesentlichen auf biografische und motivgeschichtliche Abhängigkeiten beschränkt, wird die Literatur nicht mehr als wesentlicher Teil der Entwicklungsgeschichte der Nation verstanden. Die Germanistik selbst gerät zu einer von der Geschichtswissenschaft losgelösten Fachwissenschaft. Schließlich verkommt die Forschung zu einem immer pedantischeren Wühlen in Nebensächlichkeiten. Die deutsche Klassik wird als einsame, den politischen Zustand weit hinter sich lassende Spitzenleistung begriffen und damit aus ihren historischen Bedingungen gelöst. Entsprechend der positivistischen Methode versuchte man nun auch in der Germanistik, die Dramen des jungen Schiller von den äußeren Lebensbedingungen her durch biografische Daten zu erklären und ihre politische Tendenz in den engen Rahmen persönlicher Erfahrung des Dichters zu pressen. Dadurch verflüchtigt sich die Kritik der "Räuber" an den gesellschaftlichen Zuständen zu vagen "revolutionären Gesinnungen". Schillers Rebellion wird ihrer objektiven gesellschaftlichen Bedingtheit beraubt, die klassische Ästhetik auf die ästhetische Bewältigung gesellschaftlich nicht erwünschter individueller Regungen reduziert und die Geschichte in subjektiv verfügbare Erlebnisse aufgelöst, "in denen in immer neuer Gestalt das ewig gleiche, unveränderliche Sein erlebt wird."

Im Laufe der Lektüre gewinnt man ein ziemlich genaues Bild von den Veränderungen in der Germanistik im 19. Jahrhundert, nicht zuletzt auch durch die vielen eingeschobenen "Räuber"-Interpretationen von A. C. F.Vilmar, Wolfgang Menzel, Julian Schmidt, Hermann Hettner aus der so genannten nationalen Germanistik sowie von Jakob Minor, Karl Berger, Richard Weltrich und Otto Harnack, die die positivistische Richtung verkörpern. Der gut lesbare Band mit seinen vielen aufschlussreichen und sorgfältig erarbeiteten Beiträgen, diversen Exkursen, genauen Anmerkungen und, nicht zu vergessen, mannigfachen Karikaturen und satirischen Anspielungen auf Phänomene des 19. Jahrhunderts in den Illustrationen - zum Beispiel auf den grimmig dreinschauenden deutschen "Michel und seine Kappe im Jahre 1848" - dürfte vielen Lesern nicht nur intellektuellen, sondern auch ästhetischen Genuss bereiten.

Titelbild

KD Wolff (Hg.): Das Räuberbuch. Zitate und Kommentare, Historisch-Ökonomische Informationen, Exkurse und Illustrationen.
Parthas Verlag, Berlin 2005.
415 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-10: 3866019408

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