Ausgesprochen ineffabile
Dirk Kemper über Goethe und die Individualität
Von Inka Kording
"Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen." Mit dem Kern dieses Verdikts von Ludwig Wittgenstein am Ende seines berühmten "Tractatus logico philosophicus" haben sich seit Jahrhunderten Gelehrte, Wissenschaftler, Schriftsteller und Philosophen beschäftigt. Die Tatsache, dass bestimmte emotive und kognitive Prozesse nicht in sprachliche Äußerungen umsetzbar sind, durchzieht viele Arten der zwischenmenschlichen Kommunikation, birgt Stoff für die Künste und wird besonders im 18. Jahrhundert zunehmend reflektiert: Das titelgebende Diktum Johann Wolfgang von Goethes aus einem Brief an Lavater vom 20. September 1780, "individuum est ineffabile", ist genauso wie der zweite Teil von Schillers Distichon "Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr" die retrospektive Pointierung eines sich über die Jahrzehnte verfestigten anthropologischen Paradoxons: Im Zeitalter der Aufklärung füllt der Mensch nicht mehr in einer gottgegebenen Ordnung seinen ihm vorherbestimmten Platz aus, sondern muss sich in der seit Niklas Luhmann viel beschworenen funktional differenzierten Gesellschaft, die sich seit dem Ende des 17. und vor allem im 18. Jahrhundert entwickelt, zum einen zurechtfinden, verschiedene Rollen einnehmen und versuchen, diese vielfältigen Handlungssphären und Lebensbereiche zu einem kohärenten und kontinuierlichen Ich zusammenzufügen. Zum anderen aber werden auch Fragen, die zuvor mit Hilfe der äußeren, theologisch und teleologisch konzipierten Welt beantwortet wurden, ins Innere des Menschen verlegt: Nach welchen Ordnungsschemata soll die Varietät der Ich-Elemente verbunden werden, um welchen Kern wird das eigene Selbst zentriert und wie kann dieser Nukleus, so er vorhanden ist, zunächst bewusst und dann verbalisiert werden? Die Notwendigkeit der Letztbegründung von Individualität verschiebt sich also aus der Welt in das Ich, von metaphysischen, ontologischen, kosmologischen und/oder theologischen Metadiskursen in die Epistemologie. Wenn allerdings der Wunsch und das Bedürfnis nach einer Letztbegründung des eigenen Ich in das Reich der Utopie verwiesen wird, entsteht eine spannungsvolle Polarität im Individualitätskonzept zwischen Selbstbegründungsfreiheit und Selbstbegründungszwang.
Diese historische Formation nimmt Dirk Kemper in seiner Habilitationsschrift zum Anlass, zentrale Werke Johann Wolfgang von Goethes wie "Götz von Berlichingen", den "Werther", "Torquato Tasso", "Wilhelm Meisters Lehrjahre" sowie "Aus meinem Leben" mit einem systemtheoretischen Instrumentarium auf ihre Präsentation von Individualität hin zu befragen.
Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen wählt Kemper dabei Goethes eigene Entwürfe von Individualität, wie sie sich in seinen diversen autobiografischen, semibiografischen und fiktionalen Texten manifestieren. Dabei zeigt er in drei großen Kapiteln eine Entwicklungslinie auf von einem autoreferenziellen, einstelligen Individualitätskonzept im verabsolutierten Ich über ein zweistelliges System im symbolisch-kulturellen Raum bis zum Polyperspektivismus der Entfaltung von Individualität im historischen Kontext. Begleitet und kontrastiert werden die textuellen Interpretationen einerseits von theoretischen Überlegungen zu Kultur und Individualität vor allem auf der Folie des Kulturbegriffs von Giovanni Battista Vico und dem Versuch Ernst Cassirers, Kants erkenntnistheoretischen Kritizismus auf die Kulturwissenschaften anzuwenden. Andererseits diachronisiert Kemper die Goethe beeinflussenden Ordnungsschemata und Konstitutionsprinzipien von Individualität, die Kemper durch die vier Kategorien von Kontingenz, Kohärenz, Sinn und Ursprungsziel konkretisiert, im Hinblick auf Autobiografien von Jung-Stilling, die spinozistischen Grundlagen von Goethes metaphysischem Denken sowie theologiegeschichtliche Überlegungen zum Topos der Unaussprechlichkeit des Göttlichen oder Numinosen. Außerdem entfaltet Kemper ein historisches Szenario der Narrativik von Autobiografie in den Bereichen der Geschichte der "anima" (Augustinus, August Hermann Francke und Goethes "Bekenntnisse einer schönen Seele"), der Geschichte des Ich (Montaigne) und der Geschichte der Psyche (Karl Philipp Moritz).
Während Goethe dem 16. Jahrhundert im "Götz von Berlichingen" ein Konzept von Besitzindividualismus unterlegt, das sich erst am Ende des 18. Jahrhunderts als Kategorie der Selbstdefinition konkretisiert und somit aus dem historischen ein spezifisch modernes Drama macht, spielt der "Werther" mit seiner selbstreflexiven Wendung ins Innere seiner Persönlichkeit alle Chancen, aber auch Aporien des neuen, von Inklusion auf Exklusion umgestellten Individualitätskozeptes durch. Diese Problematik versucht Goethe im "Tasso" aufzulösen, indem er den Selbstbezug von Individualität an die Kommunikabilität eben desjenigen Ich-Entwurfs koppelt. Kemper nennt das Medium dieser Repräsentanz den kulturellen Code und interpretiert damit Goethes Konzept von Individualität im "Tasso" als zweiwertig. Gleichwohl endet auch dieses Drama in einer Aporie, aus der Wilhelm Meister durch die Entwicklung des subjektzentrierten zum dezentrierten Individualitätskonzept herausgeführt werden soll. Im Mittelpunkt vor allem der letzten beiden Bücher steht nicht mehr ausschließlich Wilhelm Meisters Introspektion, sondern die Konfrontation seines Lebensentwurfs mit dem umweltlichen Sozial- und Kultursystem, das wiederum als historisch gewachsenes wahrgenommen wird. Diese aufscheinende Spannung zwischen Geschichte und Gesellschaft präfiguriert wiederum Goethes Umgang mit seiner eigenen Lebensgeschichte und motiviert so die Polyperspektivik der in "Dichtung und Wahrheit" benutzten narrativen Schemata ebenso wie die Erkenntnis, dass auch bei einer Erzählung "Aus meinem Leben" immer ein Rest "ineffabile" bleibt.
Zwar fallen die rein theoretischen und die interpretatorischen Teile fundierenden Abhandlungen in der Relation eher kurz aus, und eine breitere bzw. differenzierende Behandlung der zugegebenermaßen schier unüberschaubaren Literatur zu Individualitätstheorien und zu anthropologischen Konzepten des 18. Jahrhunderts wäre sicherlich wünschenswert gewesen. Aber Kemper versteht es, Kernpunkte theoretischer Probleme knapp und klar darzustellen und mit ungewöhnlichen Beispielen so zu illustrieren, dass komplizierte Konsequenzen und entstehende Aporien anschaulich und konkret werden. Dabei vermeidet er, ohne Komplexität zu reduzieren, einen theorielastigen Duktus, so dass die entwickelten theoretischen und interpretatorischen Gedankengänge gut nachvollziehbar werden.