Vom süßen Schmerz

Giacomo Leopardis "Tagebuch der ersten Liebe"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dichter sind bekanntlich Sensibelchen. Der kleinste Piekser genügt, und die Verse sprudeln nur so aus der klaffenden Wunde. So geschehen dem jungen Giacomo Leopardi, der 1817 mit 19 Jahren die Liebe kennenlernte. Und zwar in Gestalt einer jungen Verwandten, Gertrude Cassi-Lazzari, die Familie Leopardi auf einem abgelegenen Anwesen in Recanati in den Marken/Italien besuchte.

Giacomo, der sich zu diesem Zeitpunkt als Autodidakt bereits viele Sprachen angeeignet, eigene Arbeiten veröffentlicht und sich beim besessenen Durchwühlen der väterlichen Bibliothek die Gesundheit ruiniert hat, fehlt es zu diesem Zeitpunkt nur an einem: an Lebenserfahrung. Gertrude, eine sieben Jahre ältere Cousine, kommt überraschend zu Besuch, und um den Jüngling ist's geschehen. In empfänglichen Stadien genügen ja Kleinigkeiten. In diesem Fall ein gemeinsames Schachspiel, ehe die Cousine tags darauf frühmorgens abreist. Mit einem atemlosen Giacomo am Fenster, der von seinem Bett aus das Pferdegetrappel und die Wagenräder hört und auf die eine erlösende Stimme wartet.

Neun Tage lang führt Leopardi Tagebuch und analysiert seine psychische Verfassung. Die Prosa des Tagebuchs schwankt zwischen spontanem, hilflosem Staunen über das unerhört Neue und zwischen abgeklärter, altkluger Bewußtheit. Soll er sich nun den schmerzlichen Empfindungen hingeben, oder wäre es besser, sie so wenig wie möglich zu beachten? Welchen Einfluß hat die Liebe auf seine Träume? Warum verspürt er mit einem Mal eine so große Abneigung gegen Lektüre, insbesondere gegen die von Liebesromanen? Ausgenommen von dem Ekel vor Geschriebenem bleiben bezeichnenderweise einzig seine eigenen Verse und sein Tagebuch. Melancholisch verzeichnet der unglücklich verliebte Jüngling, daß er wieder beginnt, "in aller Ruhe über diese Angelegenheit nachzudenken, [...] so daß ich zu meinem großen Kummer den Schluß ziehen mußte, ich würde bald wieder so werden wie früher."

Doch gegen den drohenden Verlust des begehrten Schmerzes gibt es ja das Tagebuch, mit dessen Hilfe die Erinnerung, wenigstens eine Zeitlang, aufgefrischt werden kann. Mit Genugtuung und Stolz wird verzeichnet, wenn der süße Schmerz unverhofft die alte Stärke wieder erreicht hat und alles Denken und Trachten nur um die Eine kreist - auch wenn man sich an deren Gesicht zugegebenermaßen schon gar nicht mehr so genau erinnern kann.

Der Broschurdruck der Friedenauer Presse enthält nicht nur die vorzügliche Übersetzung dieses, wenn man so will, musterhaften Tagebuchs einer kurzen ersten Liebe. Auch das parallel entstandene Gedicht "Il Primo Amore" wurde von der Herausgeberin Marianne Schneider beigelegt. Jedoch wirken im Vergleich die Unmittelbarkeit und Spontaneität des Tagebuchs eindringlicher und anrührender als die wohlgesetzten Verse.

Titelbild

Giacomo Leopardi: Tagebuch der ersten Liebe. Aus dem Italienischen von Marianne Schneider.
Friedenauer Presse, Berlin 1998.
32 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3932109104

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