Verflüchtigung des Erlässlichen

Ursula Krechel gibt dem Wir eine Stimme

Von Ute EisingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ute Eisinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der "harte Kern" ist immer das, was nach Verflüchtigung des Erlässlichen übrig bleibt. Die Dichterin Ursula Krechel, Jahrgang 1947, hat ihm eine Stimme verliehen.

Das Gedicht gilt als literarisches Medium Nummer 1 für individuelle Befindlichkeiten, Erkenntnisse oder Anliegen der ersten Person Singular - während die epischen Formen mehr dazu dienen, Beobachtungen oder Geschichten von einzelnen Anderen oder der ganzen Gesellschaft begreiflich zu machen. Die Postmoderne hat die Gattungsbegriffe verschwimmen lassen; was ohnehin schon längst auf der Strecke blieb, war die literarische Artikulationsform des Wir, das Epos. Welcher Mensch sollte sich auch anmaßen, das kollektive Bewusstsein der historischen Epoche und Gesellschaft, der er angehört, zu bestimmen und verantworten? Das Gedicht gibt gemeinhin freie Bahn für alles, was dem Schreibenden hier und jetzt auf der Seele liegt. Die Erfordernis, zu bestimmen, was uns alle betrifft, scheint dieser Intention geradezu entgegengerichtet.

Die Odyssee (und die Ilias) waren so etwas wie eine Arche Noah für den antiken Menschen: Homer transportierte den Identität stiftenden Mythos der Alten Welt auf der Fahrt nach Europa. Vergil nahm sein Beispiel zum Vorbild, auch Dante und Milton. Erst spät hat sich die Absicht zerstreut, in einem Gedicht alles und alle zu Wort kommen zu lassen, Zusammenhänge her- und darzustellen, auf so eindringliche und neu grundlegende Art, wie nur mit lyrischen Mitteln möglich. Die Interessen der Dichter fächerten seither breit aus, jedem steht das Seine zu. Das 'Ganze' in den Mund zu nehmen wagt nur selten noch jemand.

Nobelpreisträger Derek Walcott wäre hier zu nennen, der der Neuen Welt der Antillen, aus der er stammt, einen neuen Mythos geschaffen hat - mit den bekannten Motiven und Konstellationen. Ein "Epos der Unterdrückten" hat man die darin besungene Geschichte der Kolonien genannt. Der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hat sich jüngst der Australier Les Murray angenommen, als er in "Fredy Neptune" ein abenteuerliches Schelmenepos schrieb, dessen Held aus der Froschperspektive die Kriegsschauplätze der Welt- und Wirtschaftskriege miterlebt.

Im Deutschen sind diese großen Entwürfe rar. Günter Grass ist hier wohl der epischste Autor - Nobelpreisträger auch er, doch als Erzähler statt als Dichter. Die deutschen Epen treten bescheiden auf. Wenn man so will, war Durs Grünbeins Langgedicht "Vom Schnee" ein kleines Epos - eine Bestandsaufnahme Deutschlands vor dem Dreißigjährigen Krieg. Nun aber hat Ursula Krechel ein solches Poem geschrieben. Sie konzentriert unsere innere Verfassung auf die Erfahrung von Gewalt, die den heutigen Menschen dem früheren wie entfernten verbrüdert und untertitelt "Stimmen aus dem harten Kern" schlicht mit "Gedicht". Dabei hat schon der formale Entwurf etwas Totalitäres: 12 mal 12 Strophen, d. h. zwölf mit Titel und Zitat überschriebene Kapitel à zwölf Zweizeilern, meist in Langzeilen und immer ungereimt, im schleppenden Metrum des griechischen Vorbilds.

Krechel lässt - ähnlich Walcott - Vertreter unterschiedlicher Zeit- und Gesellschaftsschichten ihre Erlebnisse von Gewalt austauschen. Dafür zitiert sie aus Tagebüchern und literarischen Texten über Krieg, Prostitution, Immigration, Kolonialismus und Ausbeutung. Es kommen Kinder, Frauen, Kriegsteilnehmer aus dem Schützengraben, von der Flucht oder aus besetzten Gebieten zu Wort. Im Konzert der Stimmen, das trotz vielfältiger Perspektivenwechsel nie collagiert wirkt, sondern das - und genau darin liegt ja die Homerische Qualität - die Dichterstimme kohärent durch den poetischen Fluss führt, treiben ein paar literarische Anspielungen - Liedtexte, das Bildungsgut der Anfangszeilen aus Ovids Zeitenklage - immer wieder an die Oberfläche. Sie lassen uns erkennen und machen bewusst, worin die Gemeinsamkeiten bestehen, die uns - jene Generationen, die hier und jetzt als auch gestern und morgen anwesend sind und mit den selben Erfahrungen leben oder sie kennen müssen - verbinden und unsere Zivilisation bestimmen.

Titelbild

Ursula Krechel: Stimmen aus dem harten Kern. Gedicht.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2005.
163 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 390214498X

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