Frei oder nicht frei - ist das hier die Frage?

Achim Lohmar zufolge setzt moralische Verantwortlichkeit keine Willensfreiheit voraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

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Seit einer Reihe von Jahren gefallen sich einige Gehirnforscher darin zu verkünden, ihre Befunde negierten die menschliche Willensfreiheit. Mit umstürzenden Folgen, wie sie mit effekthascherischem Aplomb versichern. So wollen sie etwa das gesamte Strafrecht auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen. Wenn die Menschen schon keinen freien Willen haben, sollen sie wenigstens aus den Gefängnissen befreit werden. Wäre das medienwirksame Auftreten der willensverneinenden Neurowissenschaftler nicht darauf angelegt, ihre Wissenschaft zur Leitwissenschaft zu machen und einen immer größer werdenden Anteil der immer geringer werdenden Förder- und Drittmittel einzuheimsen, würden sie bei Geisteswissenschaftlern - zumal bei Philosophen - ob der Dürftigkeit der Argumente, mit denen sie diesen vermeintlichen Nexus zu begründen versuchen, kaum mehr als ein gelangweiltes Schulterzucken hervorrufen. Dies umso mehr, als die Kontroverse um die Willensfreiheit und damit zu verknüpfende oder eben nicht zu verknüpfende Folgen für das Strafrecht wie auch die moralische Bewertung menschlicher Handlungen von Philosophen bereits seit Jahrtausenden ausgetragen wird. So bestritt etwa Schopenhauer vor gut anderthalb Jahrhunderten die Willensfreiheit, ohne dass er damit allerdings die These verbunden hätte, Menschen seien für ihr Tun und Lassen moralisch nicht verantwortlich. Verantwortlich sind sie seiner metaphysischen Argumentation zufolge nämlich für ihren - vom Willen vor seiner Objektivation und damit vor seinem Eintritt in die Kausalität der Erscheinungswelt frei gewählten - intelligiblen Charakter. Der wiederum liegt dem je individuellen Willen und seinen Handlungen zugrunde.

Heute vertritt Achim Lohmar die These von der "[m]oralische[n] Verantwortlichkeit ohne Willensfreiheit". Freilich mit ganz anderen Argumenten als der pessimistische Willensmetaphysiker aus Frankfurt. Im Gegensatz zu Schopenhauer verwirft er in seiner Habilitationsschrift sogar explizit die Vorstellung, dass man für eine "charakterliche Eigenschaft" verantwortlich sein müsste, um dann auch für die Missetaten, die aus ihr erwachsen, verantwortlich sein könnte. Lohmars Ansatz zielt vielmehr darauf, die Auffassung, dass Willensfreiheit eine "notwendige Bedingung moralischer Verantwortlichkeit" ist, als unzutreffend nachzuweisen. Womit sich seine Argumentation gegen Inkompatibilisten - und somit auch gegen Libertarianisten - richtet, basiert deren Beweisführung doch auf der Annahme, dass es eine notwendige Bedingung für moralische Verantwortlichkeit sei, einen freien Willen zu haben.

Bevor der Autor seine eigene Argumentation entfaltet, breitet er die Landkarte gegenwärtiger philosophischer Debatten um Willensfreiheit und moralischer Verantwortlichkeit aus. Hierbei stellt er die diversen Argumentationen in den vielfältigen Kontroversen bis in die diffizilsten Einzelheiten und feinsten Verästelungen hinein vor, wobei sich seine Darlegungen nicht zuletzt durch ihre klare und deutliche Darstellung auszeichnet. Sodann entwickelt Lohmar zwölf Einwände gegen den Inkompatibilismus, die diesen je für sich genommen zwar beschädigen, nicht aber widerlegen können. In ihrem Zusammenwirken bilden sie Lohmar zufolge jedoch ein "umfassendes" und "effektives Argument" gegen ihn.

Die "Falschheit des Inkompatibilismus", so der Autor in einem weiteren, von diesem zwölfgliedrigen Argument unabhängigen Argumentationsstrang, ergebe sich auch daraus, dass moralische Verantwortlichkeit und Determinismus nur dann miteinander unvereinbar sein können, "wenn moralische Verantwortlichkeit die Erfülltheit von Letztbedingungen voraussetzt". Eine "Letztbedingtheit moralischer Verantwortlichkeit" aber gebe es nicht.

"Fragen der Zurechenbarkeit", schließt Lohmar seine weithin plausiblen Darlegungen, seien nicht etwa "Fragen nach einer externen Zurechenbarkeit oder nach einer metaphysischen Fundierung der Moral", sondern vielmehr "moralinterne Fragen".

Titelbild

Achim Lohmar: Moralische Verantwortlichkeit ohne Willensfreiheit.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2005.
348 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-10: 3465033361

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