Christopher Marlowes mächtig fruchtbarer Leichnam

Eine unterhaltsame Fledderei in Louise Welshs zweitem Roman "Tamburlaine muss sterben"

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was Gesualdo in der Musik und Caravaggio in der bildenden Kunst, das ist Christopher Marlowe in der Literatur: Genie und Verbrecher zugleich. Er war Spion und Spitzel, Schauspieler, Schläger, ein Shakespeare aus gröberem Stoff und Schöpfer schrecklicher Schlächter des Schlages von Tamerlan, Held seines blutigen Doppeldramas "Tamburlaine". Gern gesehen in der Gerüchteküche, als Gericht wie als Koch, wusste man über Marlowe schon zu Lebzeiten nicht viel Sicheres. Am 30. Mai 1593 stirbt der Dichter des ersten Faust-Dramas und kerkererfahrene Gotteslästerer mit einem Messer im Hirn, das durch das Auge eingedrungen ist; der ihn tötete, wird freigesprochen - angeblich war es Notwehr.

Louise Welsh ist die Erste nicht und nicht die Schlechteste, die sich an Marlowes gewaltiger Existenz berauscht. In ihrer "erfundenen Geschichte" "Tamburlaine muss sterben" lässt sie den englischen Dramatiker, der den nahen Tod spürt, die letzten Tage seines Lebens für die Nachwelt aufschreiben; nicht als Beichte, sondern als Selbstvergewisserung und Zeugnis eines unbeugsamen Geistes.

Zeit- und Lokalkolorit malt Welsh als dunklen Hintergrund, vor dem die Vitalität, Intelligenz und Skrupellosigkeit Marlowes umso heller leuchten soll. Das pestgeplagte London stinkt, brodelt und lärmt: "jedes vierte Haus eine Kneipe, jedes fünfte ein Bordell". Fremdenfeindlichkeit und Gedankenpolizei fördern allgegenwärtiges Misstrauen, kühne Geistesflüge gibt es, und die Homosexualität blüht, doch wegen der tödlichen Gefahr im Verborgenen. Illusionslos, zynisch, fasziniert nur für Momente von menschlicher oder künstlerischer Schönheit, gerät der intrigante Marlowe selbst in eine Intrige: Ein Unbekannter schlägt unter dem Pseudonym "Tamburlaine" anstößige Pamphlete an, und Marlowe, der unter Verdacht gerät, muss ihn finden, um seine eigene Haut zu retten.

Nach dem internationalen Erfolg ihres Debüts "Die Dunkelkammer" reiht sich Welsh mit "Tamburlaine muss sterben" nun also ein in das Heer unterschiedlich geschickter literarischer Leichenfledderer, die ein Grundbedürfnis bürgerlicher Kultur befriedigen, indem sie Heroen wieder aufleben lassen.

Verwirrend und banal, wie die Gegenwart nun einmal ist, treibt sie uns ja geradezu in den lockenden Schoß der Vergangenheit. Die Flucht dorthin als Bildungsreise zu verbrämen, bieten sich Legionen historischer Romane an, in denen der Leser die abgeschirmte Sphäre des Gewesenen besonders genießen kann, wiegt er sich doch in dem Glauben, etwas über Geschichte und ihre bedeutenden Figuren zu lernen, während er gleichzeitig unterhalten wird. Mindestens ebenso reizt der Glanz von Zeiten, in denen Großes und Grausames vollbracht wurde, in denen Tragik und Schicksal Worte mit Klang waren.

Den vollen Klang verleiht der Vergangenheit aber eigentlich erst der hohe Bühnenton, wie er besonders eindrucksvoll in Christopher Marlowes vorwärts stürmenden Blankversen mit ihren Bilderheeren erklingt. Seine Sprachgewalt ist eine einschüchternde Herausforderung, der sich Welsh immerhin stellt. Im Original bemerkt man das stärker als in der gelungenen Übersetzung Wolfgang Müllers, der mit Fleiß und Geschick rhetorischen Schmuck verteilt und den leicht archaisierenden Ton aufnimmt. Von Marlowe borgt Welsh Zitate, mal offen, mal verborgen, sie imitiert seine Alliterations- und Bilderlust, öffnet dem Pathos das Tor, doch nur ein wenig. Sonst bleibt sie bei sehr gekonnt konventionellem Erzählen, das die Sprachkunst des 16. Jahrhunderts nicht imitieren will.

Überhaupt ist "gekonnt" eine angemessene, durchaus nicht abschätzig gemeinte Bezeichnung für ihren Roman. Gekonnt stellt Welsh Spannung her durch Vorausdeutungen, Vorhalte, diskrepante Information, Rätsel; die Dialoge sind gekonnt gebaut; in gekonnter Thrillermanier beginnt Welsh mit Idyllischem und Sex und endet mit einem Showdown im Theater; die Schauplätze wählt sie gekonnt, schildert sie gekonnt, und gekonnt ist schließlich zu nennen, wie sie im Historischen unaufdringlich Parallelen zu heute aufscheinen lässt. Da sie auch noch die Recherche ernst genommen hat und sich im Literarischen nicht mit dem Genie ihres Helden messen will, folgt man gut unterhalten Welshs Version von Marlowes rätselhaftem Sterben.

Titelbild

Louise Welsh: Tamburlaine muss sterben. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Wolfgang Müller.
Verlag Antje Kunstmann, München 2005.
141 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3888973848

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