Höhen und Tiefen

Eine "Traumerzählung" von Rolf S. Günther über die Beziehungen Rainer Maria Rilkes zu Lou Andreas Salomé

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer wieder in der Geistesgeschichte der vormaligen Jahrhundertwende taucht ihr Name auf, im Leben Nietzsches, in der Biografie Hofmannsthals, Schnitzlers, Max Reinhardts und im Werk Sigmund Freuds. Dem jungen Rainer Maria Rilke war die 14 Jahre ältere Frau als Liebende verbunden, und zweimal ist sie mit ihm durch Russland gereist, wo sie den alten Tolstoi und den jungen Boris Pasternak besuchten. Sie führte ihn auf einen Weg, der seine ganze Lebensart, seine Dichtung, ja sogar seine Handschrift veränderte. Und der hochsensible, fast labile Rilke wusste, was er ihr zu verdanken hatte: "Die Welt verlor das Wolkige für mich, dieses fließende Sich-Formen und Sich-Aufgeben, das meiner ersten Verse Art und Armut war; Dinge wurden, Tiere, die man unterschied, Blumen, die waren; ich lernte eine Einfachheit, lernte langsam und schwer wie schlicht alles ist, und wurde reif, von Schlichtem zu sagen". "Die Versteherin" nannte sie Sigmund Freud.

Oft schon ist über das Leben der Deutschrussin Lou Andreas Salomé, dieser ungewöhnlichen Frau und ihrer Beziehungen zu Nietzsche, Rilke und Freud geschrieben worden. Das waren wissenschaftliche Arbeiten, Lebensbeschreibungen, Sachbücher eben. Der Autor Rolf S. Günther geht nun dem Verhältnis zwischen Rilke und Lou in Form einer "Traumerzählung" - so der Untertitel seines Buchs - nach. "Traumerzählung" - was soll das sein? Eine Mischung zwischen Realität und Fiktion? Im ersten Kapitel weilt der auktoriale Erzähler, der hier auch personaler Erzähler ist, auf dem Friedhof in Raron im schweizerischen Rhônetal, wo sich an der Kirchenmauer das Grab Rilkes befindet. Auf dem Grabstein steht der Spruch, den Rilke kurz vor seinem Tode verfasst hatte: "Rose, oh reiner Widerspruch, Lust / Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern".

Ein "Fremder" gesellt sich zum Erzähler, der ihm Unbekanntes, Neues über das Verhältnis der beiden erzählt. Also eine Erzählerfigur, die über die erzählten Figuren Rilke und Lou berichtet. Aber dieser "Fremde" schaltet sich nur wenige Male in den Erzählprozess ein. Als Rilke von der 40jährigen Lou den "Letzten Zuspruch erhält, "in dem sich die langjährige Geliebte in aller Form von ihm los sagte", ist es nicht mehr der "Fremde", der den Gemütszustand Rilkes analysiert, sondern an seine Stelle ist wieder der Erzähler getreten. Eine Inkonsequenz, die der "Traumerzählung" die Legitimität abspricht. Das Buch entbehrt der poetischen Gestaltung, es bleibt beim reich mit Zitaten ausgestatteten, dokumentarischen Bericht, besitzt mehr oder weniger Sachbuchcharakter und kann so ohne weiteres in die Reihe bisheriger Darstellungen über dieses Thema eingeordnet werden. Ja, die Quellen aus erster Hand (Briefe, Aufzeichnungen, Tagebücher) nehmen so sehr überhand, dass man fast von einer Anthologie sprechen könnte.

Was aber diesen Bericht von bisherigen Darstellungen unterscheidet, ist, dass er von Rilke ausgeht, dessen Lebensweg nachzeichnet und die zeitweiligen Begegnungen mit Lou in den entsprechenden Lebensstationen des Dichters nur einblendet. Aber auch die Figur Rilke "träumt", so auf dem Wege - fort von Lou - nach Worpswede, wo ihn Heinrich Vogeler erwartet. "Ja, er fühlte sich Lou nie so nahe als jetzt, und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt hatte Lou sich längst von ihm entfernt". Im - übrigens recht kitschigen - Traum wird ihm ein Pergament überreicht, auf dem steht: "zu dichten ist deine Aufgabe, nicht zu lieben". Schreiben oder eine Familie gründen, der Kafka-Konflikt, gilt auch für Rilke. Auf der anderen Seite lebte Lou, obwohl im "Lebensbund" mit dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas, ihr Frausein aus gegen alle Regeln der Epoche. Sie lebte und lehrte das, was man später "Selbstverwirklichung" nennen wird.

Das Rilke-Wort "Auf welches Instrument sind wir gespannt und welcher Geiger hat uns in der Hand..." ist das Motto des Buches. Es gilt für die Beziehungen der beiden, denn Lou war nicht nur Rilkes "Geliebte, Freundin und Vertraute aller seiner Nöte und Geheimnisse", seine Muse und Ziehmutter in einem, sondern die philosophisch Gebildete, die literarisch Tätige, die arrivierte Schriftstellerin, später auch die praktizierende Psychoanalytikerin. Es gilt aber auch für die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Dichtern, bildenden Künstlern und Komponisten, die Rilke in Worpswede oder später in Paris erfuhr. "Rilke stellte Ähnlichkeiten mit seiner eigenen Arbeitsweise fest. Gedanken, Gefühle, Worte sind es, die mit rhythmischen Empfindungen zu Musiksprache werden".

Aber das Rilke-Wort hat auch etwas Schicksalhaftes, Unabänderliches, das Günther als Chronist auf das ganze Leben Rilkes überträgt. Bevor Rilke die Bildhauerin Clara Westhoff heiratet, die ein Kind von ihm erwartet, hat er tiefe Empfindungen für Paula Becker, die dann eine Ehe mit Otto Modersohn eingehen wird. Sie porträtiert Rilke - "ein Meisterwerk expressionistischer Kunst", schreibt Günther mit falscher Zuordnung des Stilbegriffs. Und dann heißt es: "Beide gingen ihren Weg vorgezeichneter Schicksalhaftigkeit, in die sie sich ergaben". Der Rilke'sche Schicksalsbegriff wird von Günther auch auf die Darstellung des Lebens Rilkes übertragen. Was hat das noch mit kritischer Objektivität zu tun?

Rilkes frühe Gedichte haben Lou nicht sonderlich beeindruckt. Für sie war es der Mensch, der einmal ein großer Dichter werden sollte, der sie anzog. Der 21jährige Dichter aber kniet verzückt vor der 36jährigen Frau wie vor einem Heiligtum: "Ich habe Dich nie anders gesehen, als so, dass ich hätte beten mögen zu Dir. Ich habe Dich nie anders gehört, als so, dass ich hätte glauben mögen an Dich. Ich hab Dich nie anders ersehnt, als so, dass ich hätte leiden mögen um Dich. Ich hab Dich nie anders begehrt, als so, dass ich hätte knien dürfen vor Dir". Nach Günther war das bedeutendste Zeugnis der Begegnung Rilkes und Lous ein solches freireligiöses, sich seinen Gott selbst erschaffendes Dichtwerk wie das "Stundenbuch" (1905), Rilkes erster großer Erfolg. Was Lou selbst an Erzählungen schrieb, rangierte damals unter "Frauenliteratur" - und auch Günther verzichtet darauf, ihr den verdienten Rang zuzuweisen.

Was aber dennoch eine spannende Lektüre ergibt, ist, dass er den Quellen aus erster Hand, die ja auch nicht immer authentisch sind (da werden Details erfunden, Gefühle übertrieben, taktische Varianten eingeschlagen), sozusagen eine zweite Textschicht unterlegt, die zu den schriftlich formulierten Aussagen im Widerspruch steht. Das sind die inneren Monologe Lous und Rilkes, in denen sie über sich und den Partner räsonnieren, emotional aufgeladen, aber doch weitgehend unverfälscht, in ihr Inneres Einblick gewähren, ihren wahren Gefühlen Ausdruck verleihen. Im Dialog zwischen Erzählerkommentar und Figurenaussage, "authentischem" Schriftstück und mündlicher Äußerung, direkter Rede und innerem Monolog kann man Höhen und Tiefen einer leidenschaftlichen Liebe, das Wissen und Leiden umeinander miterleben.

Rilke hat auf Lous Abschiedsbrief vom Februar 1901, der die Überschrift "Letzter Zuspruch" trug, mit einem Gedicht geantwortet, in dessen dritten Strophe er ein erstaunlich treffendes Porträt von Lou gibt: "Warst mir die mütterlichste der Frauen, / ein Freund warst Du wie Männer sind, / ein Weib so warst du anzuschauen, / und öfter noch warst Du ein Kind. / Du warst das Zarteste, was mir begegnet, / das Härteste warst Du, damit ich rang. / Du warst das Hohe, das mich gesegnet / und wurdest der Abgrund, der mich verschlang". Als sie sich trennten, wollten sie einander nicht mehr schreiben, "es sei denn in der Stunde höchster Not". Rilke suchte zwei Jahre später wieder die Beziehung mit Lou, aber es entstand - von gelegentlichen Wiederbegegnungen abgesehen - etwas Neues, jene Brieffreundschaft, die in der Edition des "Briefwechsels" über 400 Seiten füllt. Auf merkwürdige Weise lief Lous Entwicklung und Berufslaufbahn als Psychotherapeutin wieder auf Rilkes Schaffenskrisen und Erschöpfungszustände zu. Sie hatte ihn erschaffen, sie hatte das Außerordentliche wahren Künstlertums in ihm erkannt, nun war sie seine Nothelferin und Beichtmutter. Nanni Wunderly-Volkart, die an Rilkes Sterbebett saß, hat überliefert, dass er an seinen zwei letzten Lebenstagen mehrmals gesagt habe: "Vielleicht wird die Lou Salomé doch begreifen, woran es gelegen hat...". Die endgültige Antwort darauf wird wohl jeder Biograf schuldig bleiben müssen.

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Rolf S. Günther: Rainer Maria Rilke und Lou Andreas Salomé. Auf welches Instrument sind wir gespannt.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005.
336 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3826029496

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