Korea

Gastland in Frankfurt bei der Buchmesse

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

I
Jährlich stellt sich auf der Frankfurter Buchmesse ein Gastland oder, wie zuletzt mit der arabischen Welt, eine Gastregion vor. Das bietet Büchern, Autoren, Verlagen eine Chance, die schwer zu nutzen ist: die Chance, endlich einmal Aufmerksamkeit zu gewinnen, nebst der Gewissheit, dass auf dem nun auch schnelllebig gewordenen Buchmarkt bald schon ein anderes Thema seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird.

Nun geht es in der Literatur durchaus um Stoffe und Themen, vor allem aber um gute Bücher; und so hat die Gastlandroutine sicher schon für viele Werke aus fernen Gegenden die verdiente Aufmerksamkeit hervorgerufen, die ihnen sonst nicht zuteil geworden wäre. Der Anspruch aber geht meist darüber hinaus. Er zielt nicht nur darauf, dass unter vierzig oder fünfzig Autoren günstigenfalls vier oder fünf ein treues deutsches Lesepublikum finden, was mittelfristig doch potenzielle Aufmerksamkeit für deren Landsleute bedeutet; er zielt darauf, eine Nationalliteratur vorzustellen, ein Land oder gar, was am schwierigsten zu umgrenzen ist, eine Kultur.

Dies Unterfangen verlangt Mittel. Wo Mittel sind, sind auch Interessenten. Und wo Interessenten sind, findet sich Strategie - die nicht verwerflich ist. Die Rede ist hier nicht von plumper politischer Beeinflussung, von Versuchen, das Eigene in Deutschland als vorbildlich darzustellen und Kritiker im Ausland zu marginalisieren. Südkoreanische Autoren, die sich mutig gegen die Militärdiktaturen zwischen 1960 und den frühen 90er Jahren wandten, sind heute in ihrer Heimat anerkannt und in Frankfurt prominent vertreten. Jüngere, die mit scharfem Blick auf die Zerstörungen, die eine rapide Modernisierung angerichtet hat, ihre Heimat beschreiben, sind ebenfalls da. Kritiklose Lobredner ihres Landes dagegen wird man in diesem Jahr auf der Messe lange suchen müssen.

Die Rede ist dagegen von der notwendigen Ambivalenz, die eigene Literatur den Deutschen einerseits als fremd und landesspezifisch darzustellen - sonst hätte ein Länderschwerpunkt keinen Sinn. Andererseits muss das Übernationale, deutschen Lesern Kompatible vermittelt werden, denn als komplett Fremdes lohnte die Literatur keine Beschäftigung. Goethes Worte von den Eigenheiten einer Nation als "Münzsorten" und vom Übersetzer als "Vermittler" eines "allgemein geistigen Handelns", der "den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht", bezeichnen gerade in ihrer ökonomischen Metaphorik die Position, die eine nationale Literatur im Gesamt der Weltliteratur darstellt. In einer globalisierten Welt, die gegenwärtig mehr Kulturwerte vernichtet als hervorbringt, bestätigt sich das Sprachbild auf weniger optimistische Weise als der es meinte, der es fand, zumal die erfolgreichere Handelsware auf absehbare Zeit die gekonnt auf weltweite Vermarktung kalkulierte angelsächsische Unterhaltungsliteratur sein dürfte.

Man kann das Problem soziologisch und machtanalytisch als Kampf um Anerkennung sehen. In überkommener Sicht sind Europa und Nordamerika das kulturelle Zentrum, um das die Peripherie mit bedeutendem Mitteleinsatz wirbt. Seit einer Generation zwar ist Ostasien wirtschaftlich erfolgreich und nähert sich dem Westen an, doch orientieren sich Aufsteiger seit je an etablierter Kultur, mag sie auch ökonomisch niedergehen. Die Millionen von Euro, die Südkorea für seinen Gastlandauftritt aufwendet, sind so betrachtet ein zweifelhaftes Kompliment. Allerdings sind Empfänger von Komplimenten selten wählerisch. Die Interpretation des alten Zentrums also dürfte sein: Seht, sie werben um unsere Aufmerksamkeit, sie wollen endlich was sein. Anstelle eines Kulturaustauschs tritt hier der abschätzende Blick, ob es denn auch dahinten wohl jemanden gibt, der passabel schreibt. Das umgekehrte Interesse ist: Wenn sie uns anerkennen, ist auch unsere Kultur legitimiert und sind die Erniedrigungen, die wir seit einem guten Jahrhundert ertragen mussten, vorbei. Die koreanische Hoffnung auf einen Literaturnobelpreis bezeichnet diese Haltung, der man kaum beikommen kann mit dem Hinweis auf die literaturhistorische Bedeutungslosigkeit dessen, was ein paar Leute in Schweden dekretieren.

Man kann das Problem aber auch mit den Augen eines neugierigen Lesers sehen, der wissen will, ob es denn neben dem einzelnen lesenswerten Buch wirklich etwas Koreaspezifisches gibt, das seine Aufmerksamkeit lohnt. Tatsächlich gibt es das. Und die Paradoxie liegt darin, dass dieses Besondere nur das Allgemeine sein kann, das auch ihn betrifft.

II
Es gibt dieses Besondere, und es ist die Verdichtung des Allgemeinen.

Koreanische Literatur ist in Inhalt und Schreibweise eng an die koreanische Geschichte des 20. Jahrhunderts gebunden. Und diese ist, aus europäischer Sicht vertraut, über weite Strecken durch Armut und Gewalt geprägt. Die Geschichte griff ins Leben aller Schriftsteller ein, häufig durch politischen Protest und politische Verfolgung. Das gleiche gilt für das Publikum, das sich im Verlauf von Modernisierung und Alphabetisierung zu großen Teilen erst als Lesepublikum konstituierte.

Die politische Geschichte Koreas im 20. Jahrhundert war lange Zeit von Niederlagen und Krieg gezeichnet. Seit Jahrhunderten hatte die herrschende Jeoson-Dynastie das Land von äußeren Einflüssen weitgehend abgeschottet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts von den imperialistischen Großmächten Russland und Japan eingekeilt, wurden Reformen zu spät eingeleitet. In mehreren Schritten wurde Korea japanische Kolonie, schließlich 1910 annektiert.

Die Kolonialzeit brachte einen beschränkten technischen Fortschritt, da das rohstoffarme Land aus japanischer Sicht als Brückenkopf für eine weitere Expansion aufs asiatische Festland geeignet war und eine zu diesem Zweck brauchbare Infrastruktur erhielt. Trotz Widerstands gegen die Kolonialherrschaft verschlechterte sich dagegen die Lage für den Großteil der Bevölkerung immer mehr. In Ostasien ist der Beginn dessen, was zum Zweiten Weltkrieg werden sollte, auf das Jahr 1937 mit dem japanischen Angriff auf China anzusetzen. In den acht Jahren danach bis zur japanischen Kapitulation brutalisierte sich die Besatzungspolitik, die nun von einem eigentümlichen Ineinander von Assimilationszwang und Rassenpolitik gekennzeichnet war.

Was 1945 darum als nationale Befreiung erlebt wurde, war allerdings Beginn der koreanischen Teilung. Während im Nordteil unter dem Schutz der UdSSR ein stalinistisches Regime etabliert wurde, das sich bis heute als bemerkenswert reformresistent erwiesen hat, setzte sich im Süden eine autoritäre Herrschaft durch, unter der jede Forderung nach sozialer Reform oder nationaler Einigung als kommunistisch verfolgt wurde.

Mit dem Koreakrieg 1950 bis 1953 war eine neue Stufe der Eskalation erreicht. Der Krieg, der keiner Seite territoriale Gewinne eingebrachte, forderte etwa 4,5 Millionen Opfer. Die wechselnden Frontlinien und die Gefahr, im Bürgerkrieg als Anhänger des jeweiligen Gegners klassifiziert zu werden, ließ ein Mehrfaches an Menschen zu Flüchtlingen werden, von denen viele durch die nun unüberwindbare Waffenstillstandslinie von ihren Familien getrennt wurden.

Nach der kaum unterbrochenen sechzehnjährigen Kriegszeit war nicht nur die Gesellschaft bis in ihre Mikrostrukturen von Gewalt geprägt; auch die politische Gewalt nahm kaum ab. Über die autoritäre Regierung Rhee Syngmans und die Diktaturen der Generale Park Chung-Hee ab 1961 und Chun Doo-Hwan ab 1980 zieht sich bis in die frühen 90er Jahre eine Reihe brutaler Regimes, denen die Erfahrung von teils erfolgreichem Widerstand entgegengesetzt ist: vor allem die Revolution vom April 1960, in der ein Bündnis von Studierenden und liberalem Bürgertum für kurze Zeit eine Demokratisierung erreichen konnte, wie auch die Demonstranten, die für kurze Zeit 1980 die Stadt Kwangju kontrollieren konnten, bevor dann aber viele von ihnen einem Massaker des Militärs zum Opfer fielen.

Freilich war schon in den 80er Jahren die erfolgreich industrialisierte, komplexer gewordene Gesellschaft nur mehr mit Mühe qua Befehl zu führen. Studierende und Gewerkschafter konnten durch jahrelange Kämpfe die Herrschaft abmildern und schließlich einen Übergang zu einer Zivilregierung befördern. Mit Kim Young-Sam wurde 1992 zum ersten Mal ein Zivilist zum Präsidenten gewählt, bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gab es mit dem Sieg Kim Dae-Jungs den ersten friedlichen Machtwechsel in der südkoreanischen Geschichte.

Die Erscheinungen von Krieg und Verfolgung, von Vertreibung und Flucht sind deutschen Lesern bekannt. Widerständige Autoren haben die Ereignisse begleitet; viele von ihnen saßen in japanischen und südkoreanischen Gefängnissen, manche sind im Koreakrieg verschollen, vielleicht im Norden getötet. Die Frage, wie man sich angesichts der Gewalt verhält, ist vielfach verhandelt, bis hin zu den verstörenden Erzählungen eines Lim Chul-Woo über die Folter, etwa in "Das rote Zimmer" (1988); im Fremden bekannter Stoff für deutsche Leser, die nach wie vor großes Interesse für die NS-Herrschaft als der Katastrophe europäischer Geschichte beweisen.

Eine vergleichbar düstere Geschichte weist indessen manch anderes Land auf, spezifisch koreanisch ist sie nicht. Ein Aspekt der koreanischen Geschichte, der für Deutsche besonders nahe scheint, ist es zudem tatsächlich nicht: die Teilung des Landes. Die Grenze zwischen Nord und Süd ist viel schwerer zu überwinden als es die zwischen Ost und West jemals war. Und mangels Kontakt gibt es in der koreanischen Literatur darüber wenig Beschreibungen. Man geht vielfach in den Koreakrieg zurück, der die Teilung zementiert hat. Vergleichbares gibt es in deutscher Geschichte nicht. Es gibt pathetische Forderungen nach einer Wiedervereinigung, etwa in der Lyrik Ko Uns. Nur wenigen deutschen Schriftstellern war vor 1989 eine deutsche Vereinigung überhaupt ein Anliegen, und mit guten historischen Gründen vermieden auch diese wenigen einen so lautstarken Nationalismus, wie er für Ko als Bürger eines früher kolonialisierten Landes offensichtlich kein Problem ist und mit dem verglichen selbst ein Martin Walser wie ein Kosmopolit wirkt.

Wenn koreanische Autoren über die Teilung schreiben, wenden sie sich der Vergangenheit oder aber der Zukunft zu, weil die Gegenwart wenig hergibt, worüber sie überhaupt schreiben könnten. Lee Hochol muss in seiner frühen Erzählung "Panmunjom" (1961), in der in diesem Herbst bei dtv erschienenen Prosasammlung enthalten, zu einer sehr unwahrscheinlichen Konstruktion greifen, nur damit er einen Vertreter des Südens und eine Vertreterin des Nordens miteinander sprechen lassen kann. Viel überzeugender ist "Im Sumpf steckengeblieben" (1984) von Pak Wanso, in der im Pendragon Verlag erschienenen Erzählungssammlung "Am Ende der Zeit". Hier soll ein Kinderbuchautor für das Fernsehen eine Sendung entwerfen, in deren Handlung Kinder aus Nord und Süd die Demarkationslinie überwinden und zusammenkommen. Das Vorhaben scheitert; ein Blick auf die Grenzbefestigungen überzeugt ihn, dass die Grundidee platte Illusion ist. Pak schreibt über die Radikalität der Teilung, indem sie sich der Schilderung eines Treffens verweigert. Damit hat sie Recht, doch ist ihr Modell nicht beliebig wiederholbar, sondern wendet sich gegen eine weitere künstlerische Behandlung einer Frage, die politisch zu beantworten ist. Eine solche Antwort gab es in Deutschland - mit übrigens in Korea aufmerksam beachteten Folgen, zu deren Diskussion die koreanische Not nichts beitragen kann.

III
Das Eigene im Fremden läge also allgemeiner im Zusammenhang von Krieg, Gewalt und Diktatur - doch wozu so weit schweifen? Weil es in anderer Hinsicht verdichtet ist. In Zukunft wird man die Geschichte des 20. Jahrhunderts vielleicht nicht mehr als die blutiger Totalitarismen (was immer das sein mag) erzählen, sondern als Geschichte von Verstädterung und Industrialisierung. In dieser Hinsicht ist Korea keine mildere Spiegelung eigener Erfahrungen, sondern deren Zuspitzung. Der Weg vom Bauernland um 1900 zur extremen Verstädterung hundert Jahre später wurde mit einzigartiger Konsequenz beschritten. Der Anteil der Landwirtschaft am Sozialprodukt ist heute zu vernachlässigen; und in der Agglomeration Seoul wohnen heute gut 21 Millionen Personen, in anderen Millionenstädten oder ihrem Umkreis mehr als 12 Millionen - das heißt, dass etwa zwei Drittel der Bevölkerung in oder am Rand von Millionenstädten leben.

Damit einher geht die Ausbreitung städtischer Lebensformen; nach einem starken Bevölkerungsanstieg in den 50er und 60er Jahren, wie er auch für die europäische Industrialisierung charakteristisch war, liegt die Geburtenrate nun schon unter dem Schnitt der Industriestaaten. Das Modell der Kleinfamilie setzte sich bereits durch; und heute wird immer später geheiratet und zersetzt sich die rigide konfuzianistische und seit einigen Jahrzehnten auch christliche Sexualmoral, die freilich, glaubt man der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, immer schon eher Ideologie und Repressionsmittel als Lebensrealität war.

Lebensweltlich bedeutete die ökonomische Entwicklung, mit einiger Verzögerung, einen wachsenden Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit. Immer größere Teile der Bevölkerung kamen deshalb in den Genuss der traditionell hoch bewerteten Bildung.

Gemessen an den westlichen Industrieländern zeichnet die koreanische Geschichte ein enormes Tempo aus. In ein knappes Jahrhundert drängen sich Veränderungen, die in Europa mehr als das Doppelte an Zeit brauchten. Notwendige Folge sind Ungleichzeitigkeiten; von ihnen zu reden, bedeutet nicht, eurozentrisch das westliche Modell als Normalfall und die koreanische Entwicklung als Abweichung zu setzen. Vielmehr verweist es darauf, dass die Betroffenen und Gestaltenden stets mit ihrem Erlernten Situationen zu bewältigen versuchen, die indessen neue Antworten erfordern.

Ökonomisch und technisch ist das vorbildlich gelungen. Psychisch stellt es dennoch besondere Anforderungen, bedeutet es häufig Überforderung. Spuren davon zeigen sich in der koreanischen Literatur allenthalben - auf der Ebene der beschriebenen Personen etwa, deren Verhalten als unzureichend durchschaubar wird. Interessanter noch ist es vielleicht, wenn der Konflikt sich auf die Ebene des Werks verlagert und eine angestrebte Lösung nicht mehr gelingt. Das Scheitern ist dann kein Mangel, sondern freiwillige oder unfreiwillige Gestaltung eines gesellschaftlichen Widerspruchs. Die klügeren Autoren demontieren tradierte harmonisierende Wertsetzungen bewusst; die anderen vermitteln wider Willen den Eindruck einer Spaltung, wie sie in einer Zeit rascher Entwicklung unvermeidlich ist.

Deshalb sperrt sich koreanische Literatur jedem Exotismus. Verglichen mit Lateinamerikas "magischem Realismus" ist das möglicherweise ein Nachteil auf einem westlichen Literaturmarkt, wo ein bestimmter Teil des Publikums harmlos-geheimnisvoll Fremdes, das wie vormodern wirkt, als Kraftquell für die alltäglichen Kämpfe in der eigenen Moderne goutiert.

In das Spannungsfeld von Harmonisierung und Zweiheit gehört es, wie koreanische Autoren traditionelle Erzählmodelle und Stoffe aufgreifen und so moderne Probleme zu gestalten versuchen. Anders als in Deutschland, wo beim Lesepublikum eingehende Kenntnis von Goethes "Faust" oder dem Nibelungenlied nicht mehr ohne Weiteres vorausgesetzt werden kann, sind einige klassische Erzählungen noch Allgemeingut. So etwa die Geschichte von Sim-Tscheong, die als Beispiel weiblicher Tugend sich für ihren blinden Vater aufopfert, dafür vom mythischen Meereskönig reich belohnt wird und als Königsgattin ins Leben zurückkehren darf. Das Spektrum der Aktualisierungen ist breit: So bricht Yi Chong-Jun in "Sim Ch'ong hat gute Beziehungen" (1997) das moralische Märchen mannigfach durch Ironie, um so doch auch modernen Menschen die Lehre genießbar zu machen und den Inhalt gegen eine Moderne zu retten, in der traditionelle Werte verfallen. Das Gegenmodell hat der Dramatiker Oh Tae-Suk in "Warum das Mädchen Sim-Tscheong zweimal ins Wasser ging" (1994) geschaffen. Bei ihm ist die eindimensionale Pädagogik durch beißenden Sarkasmus zersetzt. Der Meereskönig begibt sich neugierig an Land, durchstreift die Welt des 20. Jahrhunderts und endet als fröhlicher Zuhälter, während Sim-Tscheong, die ihm in gutem Glauben zuarbeitet, damit den Menschen doch nur Unglück bringt. Dabei ist die Sprache Oh Tae-Suks genau nach alten Mustern rhythmisiert, er nutzt überlieferte Theatermittel, um zum einen der Überlieferung mit ihrer falschen Moral zu widersprechen, zum anderen auch die hoffnungslos geldfixierte moderne Welt vorzuführen.

Die scharfe Konfrontation von Alt und Neu, mag sie wohlkalkuliert gelingen wie bei Oh oder sich auch im unfreiwilligen Neben- und Gegeneinander zeigen, bedeutet wie jede Konfrontation Erkenntnis. Dass koreanische Literatur eine Literatur des Ungleichzeitigen ist, markiert daher keine Schwäche, sondern eine Stärke. Im Idealfall erlaubt sie es dem westlichen Leser, die Brüche in der eigenen Geschichte konzentriert wiederzufinden.

Es handelt sich um Konflikte, die sich nicht allein auf der Ebene von Figuren und Werk, von künstlerischem Erfolg und Scheitern abspielen. Sie finden sich auch auf der Ebene des gesamten Literatursystems. Da ist zum einen das Problem, dass viele ältere Literatur aus Gründen der Sprache oder der verwendeten Zeichen unzugänglich wird. Sprache: Während der Kolonialzeit verfassten einige koreanische Autoren auch Texte auf Japanisch. Gehören diese Werke der koreanischen Literatur an? Schrift: Lange Zeit schrieben koreanische Autoren mit chinesischen Zeichen oder mischten sie doch gebräuchliche chinesische Zeichen in die koreanische Hangeul-Schrift. Jüngere Leser kennen diese Zeichen zum großen Teil nicht mehr. Auch hat sich die koreanische Sprache im 20. Jahrhundert relativ schnell gewandelt. So ist das Verständnis eines Werks von 1930 deshalb für heutige Leser erheblich schwieriger als für deutsche Leser die Lektüre von Thomas Mann oder Bertolt Brecht.

Zum anderen kommt zum Sprach- und Schriftwandel die radikale lebensweltliche Änderung; für Seouler Stadtkinder von heute sind Romane über das koreanische Dorf der 50er Jahre wohl kaum weniger exotisch als für deutsche Leser. Aber auch aus anderen Gründen hat man es mit einer nach Generationen stark gespaltenen Leserschaft zu tun - sofern die Jüngeren überhaupt noch Bücher lesen und sich nicht gleich elektronischen Medien zuwenden.

IV
Bis vor einem guten Jahrzehnt war Literatur auch Ersatzopposition in einer Medienwelt, die zwar nicht völlig gleichgeschaltet war, doch kritischen Stimmen nur wenig Raum ließ. Autoren begriffen sich als Repräsentanten der Wahrheit und wurden als solche begriffen. Anders als in der DDR, wo Literatur eine ähnliche Rolle spielte, gab es keine offizielle Literaturdoktrin des Realismus, von der man sich deshalb mit neuen Schreibweisen oppositionell abwenden konnte. Im Gegenteil bediente sich die Oppositionsliteratur, die in Südkorea mit der heute als repräsentativ angesehenen Literatur jener Jahre weitgehend gleichzusetzen ist, zumeist traditionell realistischer Erzählweisen.

Mit der Demokratisierung verlor diese Funktion von Literatur an Bedeutung. Wenn heute Autoren noch umfassende Wahrheit über die Gesellschaft vermitteln wollen, so greifen sie, täuscht nicht die Auswahl des ins Deutsche Übersetzte, auffallend häufig in die Vergangenheit und/oder auf das Land als Handlungsraum zurück, vermeiden also die Stadt als den wesentlichen Ort des modernen Südkorea.

Gleichzeitig öffnete sich ein Raum für eine weniger didaktisch orientierte Literatur und auch für Konzepte von Autorschaft, die nicht für Belehrung, sondern für Offenheit stehen. Doch bedeutet hier ästhetischer Freiraum den Verlust von Wirkungsmöglichkeiten, auch da, wo erfolgreiche Autorinnen wie Sin Kyongsuk (geb. 1963, auf Deutsch: "Das Zimmer im Abseits", 1995) oder Eun Heekyung (geb. 1959, auf Deutsch: "Das Geschenk des Vogels", 1995) gesellschaftliche Probleme durchaus in ihre Werke einbeziehen.

Eine Parallele zu Deutschland also, wo trotz jüngster Forderungen nach einem "relevanten Realismus" die Schriftsteller, die für politische Einmischung stehen, jenseits der Sechzig sind. Allein die Parallele spricht freilich nicht für die Beschäftigung mit koreanischer Literatur; man könnte ja die deutsche lesen und hätte schon nämliches Resultat. Wieder ist es die Verdichtung, die kein Nacheinander der Generationen zulässt, sei es auch mit Vorläufern oder Nachzüglern, sondern das Gegeneinander in einem Werk, das der historischen Verschränkung der Zeiten und Funktionen entspricht.

Lehrreich kann das insofern sein, als Verdichtung, Beschleunigung auf absehbare Zeit auch im Westen geschichtliches Schicksal sein wird, Korea im 20. Jahrhundert also die allgemeinere Erfahrung des 21. vorweggenommen hat. Ermutigend ist die Bilanz nicht. Die Werke berichten von Leid, Zerstörung, vom Scheitern und von Traumatisierung. Sogar im nicht seltenen Fall einer breiten epischen Anlage steht in ihrem Vordergrund der allzu schnelle Verlust einer Welt. Manche Autoren bedauern den Verlust, manche begrüßen ihn, manche suchen verzweifelt, ihn zu leugnen und verfallen ihm umso mehr. In jedem Fall sind es Verhaltensweisen, von denen, positiv oder negativ, zu lernen ist, denn auf absehbares Zeit wird nun im Westen Liebgewonnenes, Wertvolles zerstört, ohne dass ein Besseres aufscheint. Es gilt, Haltungen zu dieser Lage zu studieren.

Anmerkung der Redaktion: Kai Köhler ist Autor des eben im Verlag LiteraturWissenschaft.de erschienenen Buches "Aufbruch aus der Morgenstille. Koreanische Literatur in deutscher Übersetzung", aus dem Etliches in diesen Essay eingegangen ist.

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Kai Köhler: Aufbruch aus der Morgenstille. Koreanische Literatur in deutscher Übersetzung.
Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2005.
276 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 393613412X

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