Erneut gestemmt

Über den gewichtigen Nachdruck des 1665 von Joan Blaeu zusammengestellten "Atlas Maior"

Von Thomas HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Atlas hält aus Zwang den weitumwölbenden Himmel,
Fern an des Erdreichs Saum, vor den singenden Hesperiden
Stehend, empor mit dem Haupt und rastlos ringenden Armen.
Denn dies ward als Amt ihm ertheilt vom Ordner der Welt Zeus."

So liest man in den Versen 510 bis 513 der "Theogonie" des Hesiod, übersetzt von Johann Heinrich Voß. Der Titan Atlas - sein Name bedeutet wahrscheinlich der, der trägt, oder der, der leidet - war einst Hüter der Himmelspfeiler, bis er, wegen seiner Teilnahme an der gescheiterten Revolte gegen die Götter, zur Strafe das Himmelsgewölbe selbst tragen musste. Die Bezeichnung Atlas für Landkartensammlung geht zurück auf das Vorwort im 1595 herausgegebenen Kartenwerk von Gerhard Mercator, in dem sich der Autor auf den gleichnamigen Sohn des Titanen bezieht: "Eben dieser Atlas - wie die Alten anführen (siehe: Diodor 4. Buch, 5. Kapitel) ist ein sehr erfahrener Astronom gewesen und hat als erster Mensch über die Himmelskugel geforscht." Vater und Sohn Atlas also beschäftig(t)en sich, gezwungenermaßen oder ganz freiwillig, mit dem All, von der Erde aus.

Sich von der Erde aus mit dem All zu beschäftigen, ist einfacher als umgekehrt. Vor etwa 350 Jahren war es aber in bis dahin ungekannter Genauigkeit und Vollständigkeit möglich, einen Blick vom All aus auf die Erde zu werfen, damals, als nur Geschosskugeln oder Feuerwerkskörper eine nennenswerte Höhe erreichten, und die Menschen ganz auf begehbare Erhebungen angewiesen waren, um sich einen Blick von oben nach unten zu ermöglichen. Um so erstaunlicher ist die vom Holländer Joan Blaeu 1662 herausgegebene Kartensammlung mit dem Titel "ATLAS MAIOR", einem, je nach Edition neun- bis zwölfbändigen, über 600 in Kupfer gestochene Landkarten beinhaltenden Werk, das mit beeindruckender Präzision die gesamte bekannte Welt darstellt und dabei einen Betrachterstandpunkt in mehreren hundert Kilometern Höhe simuliert. Ähnlich bewundernswert wie die von Blaeu besorgte Darstellung der Welt ist nun ein vom Taschen Verlag dreisprachig (englisch, deutsch, französisch) kommentiert herausgegebener Nachdruck aller Karten und einiger Texte des Blaeu'schen Atlasses. Im Format 45 x 30 Zentimeter ist dieser Nachdruck ein wahrer Foliant, und in diesem Format seiner 600 teilweise aufklappbaren Seiten aus schwerem Papier ein wahrer Gigant.

Dem Nachdruck vorangestellt ist Blaeus Vorrede an den Leser. Darin betont er zuerst die Wichtigkeit der Geografie, die er als "Auge und Licht der Geschichte" bezeichnet, da man erst mit geografischen Kenntnissen der Geschichte einen Ort geben könne. Weiter betont er natürlich den Nutzen der Geografie für militärische Zwecke, merkt aber auch an, dass sie, da sie Grenzen zieht und zeigt, dem Frieden dienlich sein könne. Überhaupt sei die Geografie Grundlage aller Wissenschaften. Ebenfalls in der Vorrede erfährt man, dass der geografische Teil des Atlasses nur als das erste Viertel eines - letztlich nicht zustandegekommenen - Gesamtwerks zu sehen sei, das sich mit einer "Macrocosmischen Harmonie", einer Hydrografie und einer Uranografie (Himmelsbeschreibung) zu einer kompletten Kosmografie addieren sollte. Wiedergegeben ist auch Blaeus "Einführung in die Geografie", in der er zuerst die diversen Weltsysteme seiner Zeit referiert (das heliozentrische des Kopernikus, sowie die geozentrischen des Ptolemäus, des Tycho Brahe und des Andrea Argolus), dann die Bewegung der Erde erklärt und schließlich die Einteilung der Erde erläutert.

Dem Kartenteil des Nachdrucks ist eine Einleitung des Herausgebers Peter van der Krogt - er forscht über Kartografie an der Universität Utrecht - vorausgeschickt, in der er die Geschichte der holländischen Kartografie zwischen 1550 und 1660 darstellt, bevor er die Produktion des "ATLAS MAIOR" beschreibt. Beeindruckend sind dabei vor allem die produktionstechnischen Details zum Atlas, der in vier Sprachen (lateinisch, französisch, niederländisch, spanisch) mit einer Auflagenzahl von 200 bis 650 Stück erschien, wobei jede Edition durchschnittlich 600 Karten und 3.000 Textseiten enthielt; van der Krogt rechnet vor, dass das Setzen des Texts fünf Setzer etwa sechs Jahre beschäftigt haben muss, und dass das Drucken der Kupfer auf den sechs Druckerpressen der Blaeu'schen Druckerei mindestens viereinhalb Jahre dauerte. Der Preis für den "ATLAS MAIOR" dürfte bei umgerechneten 20.000 Euro gelegen haben. Der "ATLAS MAIOR" war das geografische Standardwerk um 1700, dessen hohe Wertschätzung die Abbildung eines speziell für den Atlas angefertigten Bücherschranks zeigt, der vom geschnitzten, in Farbe gefassten und teilweise vergoldeten Wappen seines Besitzers gekrönt ist.

Der Kartenteil im Nachdruck folgt der Einteilung Blaeus: Er beginnt mit einem Blick auf den Nordpol, wendet sich Norwegen und Dänemark zu, wandert über Schweden nach Russland, Polen, durch ganz Südosteuropa und Griechenland hinein ins Heilige Römische Reich, geht von da aus weiter nach Nordwesten, über Belgien und die Niederlande, dreht nördlich und setzt über den Kanal, durchquert England, Schottland und Irland, macht kehrt und zieht durch Frankreich in die Schweiz nach Italien, von dort schließlich nach Spanien - mit einem Stopp am Escorial (dank einiger Stiche aus der bekannten Serie von Juan de Herrera) - und Portugal, und dann auf einen anderen Kontinent, nach Afrika, von wo aus er östlicher Richtung folgt über Asien bis in die neue Welt, nach Amerika. Die Landkarten informieren dabei nicht einfach nur über Grenzen, Siedlungen, Gewässer, Wälder und Gebirge, sie illustrieren die dargestellten Regionen auch: Exotische Völkerstämme sind abgebildet, ein Vulkan bricht aus, in den Meeren tummeln sich Scharen sagenhafter Ungeheuer, Seegefechte toben usw. Da von einer ganzen Reihe der Karten Ausschnittvergrößerungen beigegeben sind, kann der heutige Betrachter einen Eindruck von der Kunstfertigkeit der Kupferstecher, Drucker und Koloristen gewinnen, und auch unabhängig von van der Krogts Rechenbeispielen den ungeheuren Arbeitsaufwand der vielen am Atlas beteiligten Hände ermessen.

So wie der "ATLAS MAIOR" seinerzeit als standardsetzendes Werk das Bild der Welt prägte, und daher, wie es Blaeu ja bemerkt, unumgängliches Werkzeug der Wissenschaften war, so muss man den Nachdruck durch den Taschen Verlag heute, da es weltweit nur noch 300 (freilich bestens verwahrte) Originalexemplare gibt, als unumgängliches Standardwerk für denjenigen bezeichnen, der sich mit Blaeus Zeit befasst, der sich ein Bild der Welt dieser Zeit machen möchte.

Der Kartograf Blaeu war aufgrund seiner Tätigkeit beständig der Erde entrückt. Und so schreibt er, als Kommentar zur ersten Karte seines Werks, einer Weltkarte, die gerahmt ist von der Zeit (als Jahreszeitenallegorien) und dem All (als planetarischer Götterhimmel), einige Gedanken nieder, die man so nur von Weltraumfahrern kennt, die die Winzigkeit der Erde mit eigenen Augen ermessen konnten: "[D]ieser kleine Punkt namens Erde ist Subjekt und Sitz unseres Ruhms: Hier streben wir nach Ehren, hier regieren wir Staaten und lenken Reiche, hier stiften wir Wirren, hier führen wir immer wieder neue Kriege, selbst im eigenen Land, hier töten wir uns gegenseitig, und hier vergrößern wir die Erde mit unseren Metzeleien. Und um die Rasereien der Völker und Nationen mit Stillschweigen zu übergehen, versetzen wir die Grenzsteine ins Gebiet unseres Nachbarn und fügen sein Land dem unseren hinzu. Doch so sehr wir uns auch bemühen, wir kämpfen doch lediglich um einen Punkt, und wie viel Land wir uns auch aneignen mögen, indem wir die legitimen Eigentümer vertreiben, es ist nur ein Punkt, den wir besetzen können. Und haben wir einmal die ganze Erde erobert, um unsere Habsucht zu befriedigen, was bleibt uns davon noch nach unserem Tod? Fünf oder sechs Fuß Erde werden uns genügen."


Titelbild

Peter van der Krogt: Atlas Maior.
Taschen Verlag, Köln 2005.
594 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3822831255

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