Von Schlitzern und Spritzern

Der seltsame Kosmos des Dietmar Dath

Von Ralf SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dietmar Dath klotzt, wo andere kleckern. Seit Jahren publiziert der umtriebige "F.A.Z."-Redakteur, Journalist und Autor wissenschaftlicher Sachbücher einen Roman nach dem anderen. Im Frühjahr 2005 erschien sein bisheriges opus magnum, der nur mit einiger satztechnischer Mühe auf einen Umfang von unter 1000 Seiten gebändigte Roman "Für immer in Honig". Nur einige Monate später folgte sein Suhrkamp-Debüt "Die salzweißen Augen", ein "Romanessay" in Briefen, den man sich als eine zweihundertseitige Fußnote zu seinem Romanwerk und als Poetik dieser hellsichtigen Trash-Romane verstehen kann. Der Kontrast könnte kaum größer sein: In "Die salzweißen Augen" findet der Held Daniel nach Jahren stummen Liebesleids endlich einfache und ernüchternde Worte für seine nie artikulierten Gefühle, die er noch in der Erzählgegenwart hinter einer großsprecherischen Apologie des Heavy Metal, des Splatter,- Horror- und Pornogenres zu verstecken versucht. Und "Für immer in Honig" ist nicht weniger als ein weltumspannendes Epos vom beinahen Untergang der Menschheit in einem gigantischen, Jahrzehnte dauernden und ausgesprochen ruinösen Kampf gegen Zombiearmeen, Werwolfguerrillas und turbokapitalistische Kriegsgewinnler, der nach einem gigantischen Bombeninferno schließlich mit der Weltrevolution endet.

Was dabei an drastischen Phänomenen in "Die salzweißen Augen" als notwendig und wichtig rehabilitiert werden soll, wird in "Für immer in Honig" bis zum Exzess dargestellt. Ein derart mit Krieg, Kitsch und Kalauern gesättigtes Text-Monstrum hat eine kleine Leseanleitung durchaus nötig, wenn eine über den engeren Fankreis hinausgehende Leserschaft gewonnen werden soll. Die Rechnung scheint aufzugehen: Daths Romane wurden in den deutschsprachigen Feuilletons bislang nicht besprochen, allenfalls in der taz. "Die salzweißen Augen" hingegen fanden fast überall Beachtung.

Ganz harmlos beginnt die Geschichte mit der Schilderung des Alltagslebens dreier Freunde, die sich einst geschworen hatten, "einander nie zu verraten, egal, was die Welt ihnen tut".

Sie leben nun verstreut über das heutige Deutschland, haben einander weitgehend vergessen, aber dann beginnt die Welt zurückzuschlagen: überall auf dem Planeten kommen die Toten aus den Gräbern und beginnen die Lebenden zu fressen. Es kommt zu Kriegen, die Amerikaner denken an islamischen Terrorismus und bomben die islamische Welt ins Nichts, es wird mit biologischen Kampstoffen um sich geschossen, dadurch umgehende Seuchen vernichten ganze Völker, was die Kampfkraft der Menschen weiter schwächt. Bald haben die Zombies Teile der Erde in ihrer Gewalt und lassen die Menschen für sich arbeiten. Und das ist erst der Anfang! Zum Glück sind unsere 'fantastischen Drei' mit übernatürlichen Fähigkeiten begabt, die sie nach und nach, beinahe widerwillig an sich feststellen. Sie gehören zu den so genannten W, die verschiedenste Gestalten annehmen können und fabulöse Fähigkeiten haben. Wenn sie bergeweise Zombies dahingemetzelt haben, widmen sie sich gerne Party-, Drogen- und Sexorgien.

Eine entsprechend plakative Erklärung für das Geschehen gibt es auch: Nach dem Scheitern des Sozialismus und der postmodernen Absage an den Fortschrittsglauben bewegt sich die Menschheit mit rasendem Tempo zurück ins Mittelalter, von der Aufklärung zurück in den Mythos. Wo die Foucault-Lektüre die Marxexegese ersetzt und Neoliberalismus die sozialen Errungenschaften der Moderne rückgängig macht, beginnen auch Aberglaube und mystische Verzückung wieder um sich zu greifen. So einfach ist das.

Und so einfach dann doch nicht, denn diese plakative Kulturkritik ist integriert in eine verwirrende Fülle konkreter politischer und zeitgeschichtlicher Fakten aus der Gegenwart. Aus der Zuspitzung populistischer Thesen einschlägiger Politiker und Medien gewinnt Dath eine comicbunte Weltanschauung, die in ihrer Einfachheit kaum zu schlagen ist.

Bekanntermaßen bezieht Dath seine Ideen aus der Mathematik und Physik genauso wie aus der Philosophie, dem politischem Zeitgeschehen, aus amerikanischen Fantasy-Fernsehserien, der musikalischen Subkultur, aus Horror-, Splatter- und Pornofilmen. In diesen Fachgebieten und -genres sollte man sich tunlichst auskennen, um seine Romane zu verstehen. Wer Dath liest, sollte außerdem seinen Michel Foucault genauso parat haben wie sämtliche Folgen von "Buffy, the Vampire Slayer", wodurch die Menge kundiger Leser natürlich minimiert wird. Foucault wird in fast allen seinen Romanen mit seitenlangen Hasstiraden bedacht - Dath ist eben überzeugter Rationalist und lehnt den "postmodernen Theoriekäse" grundsätzlich ab, Buffy war ihm sogar ein eigenes Buch wert ("Sie ist wach. Ein Mädchen, das hilft, schützt und rettet"), in dem er, ein echter Fan, seine Titelheldin ganz unkritisch verherrlicht. Überraschend unversöhnlich sind demgegenüber allerdings seine Ausfälle gegen fast alles andere: Foucault wie gesagt, Derrida, die Postmoderne, den postmodernen Intellektuellen, den Kapitalismus, den Kulturbetrieb, die Partysubkultur, die Marktwirtschaft, das große Geld, das falsche Leben, die Verkehrtheit der Welt "and the blah blah blah blah blah". Der von Konsenssuche geprägten, aber fast auch gelähmten Wirklichkeit setzt Dath himmelstürmendes Pathos und absolute Kompromißlosigkeit entgegen - 'Tat statt Reflexion' ist seine Devise. In "Für immer in Honig" werden keine Gefangenen gemacht, das Geschehen ist stets von größtmöglicher Radikalität. Wäre Ayn Rand Kommunistin gewesen, Dietmar Dath müsste als ihr Musterschüler bezeichnet werden.

Dass Dath es wirklich ernst zu meinen scheint, wenn er Helden der Populärkultur wie Buffy gegen den ganzen 'Diskurskram' ausspielt, zeigt der Briefroman "Die salzweißen Augen", zumindest wenn man ihn nicht primär als verquere Liebesgeschichte liest, sondern als poetologischen Essay. Den Anstoß für die Geschichte wie für die Apologie des Drastischen liefert eine ehrlich neugierige Frage, die der Held und Briefschreiber Daniel zu Schulzeiten von seiner heimlichen großen Liebe Sonja gestellt bekam: 'Warum machst du das? Warum sieht du dir das an, warum hörst du diese gemeine Musik?' Nicht dass nur Sonja diese Fragen stellt, auch andere werden Daniel im Lauf seines Lebens immer wieder fragen, warum er sein Herz an so schmuddelige, unschöne bis ekelhafte Dinge wie Death Metal, Zombiefilme oder Hardcorepornos hängt. Aber Sonja ist die Person, die zählt. Entsprechend einer uralten Tradition der literarischen Liebeswerbung minnt Daniel mit einer mehr oder weniger verkappten Selbstanpreisung um die Gunst der Geliebten: schonungslos und ehrlich will er Zeugnis von sich ablegen, um die Verehrte von seinen Vorzügen zu überzeugen.

Allerdings erfolgt diese Selbstrechtfertigung nicht im Moment des akuten Verliebtseins, erst Jahre später löst sich der Emotionsstau, nach einem Klassentreffen, das ihm bezüglich der eigenen Kontaktunfähigkeit die Augen öffnet.

Soweit die Rahmenhandlung, in den Briefen ist dann allerdings weniger von Daniels Gefühlen zu lesen als vom großangelegten Versuch einer Rehabilitation der Drastik und Deutlichkeit, also all jener Darstellungen von Sex und Gewalt, die das Porno, Splatter- und Horrorgenre so unfein erscheinen lassen. In dieser intellektuellen Positionsbestimmung ist natürlich wenig Raum für Sentimentalität, ihm ist vor allem Objektivität und Rationalität wichtig - nicht die besten Mittel, um eine Frau von den eigenen Gefühlen zu überzeugen.

Wenn man den Gehalt dieser Apologie der Drastik unabhängig von der Rahmenhandlung betrachten möchte - Dath ermuntert geradezu ein solches Vorgehen, indem er eigene journalistische Arbeiten zum Thema in den Text integriert, aber von Daniel als die seinen zitieren lässt - fällt als erstes der fragmentarische oder gar skizzenhafte Charakter der Darstellung auf. Dath verstrickt sich ein wenig in seine eigenen Argumente: Drastik sei - in einer Formulierung, die fatal jenem "postmodernen Theoriekäse" ähnelt - der "ästhetische Rest der Aufklärung nach ihrer politischen Niederlage". Oder noch besser: "Drastik ist nachmythologisch, ohne antimythologisch zu sein, ist formalisierte Vernunft als Ästhetik innerhalb einer inhaltlich unvernünftigen Gesellschaft, ist der Positivismus von Schrecken, Geilheit, Macht und Ohnmacht".

Ungeachtet der Zweifel, ob solche Sätze die Geliebte zu rühren geeignet sind: Auch eine sachliche, an Argumenten orientierte Lektüre dürfte einige Verständnisschwierigkeiten mit sich bringen. Dath verbindet hier zwei seiner Lieblingstheorien, die sich aber kaum verbinden lassen. Die eine ist der Ästhetik zuzuordnen, sie betrifft die Formen des Drastischen und ihre Bedeutung, die andere - Daths radikale Kulturkritik - ist politischer oder besser ideologischer Natur.

Sein ästhetisches Argument verteidigt die konkreten Produkte drastischen Schaffens: "Gewalt ist immer überdeterminiert", sagt Dath. Eine mediale Gewalttat verweist auf keine äußere Ursache, keine Vorgeschichte, die notwendig zu dieser Gewalt führt. Eine Zombieattacke im Film bedeutet dementsprechend erst mal nicht mehr als einen blinden Angriff Untoter. Mord und Greueltaten auf dem Bildschirm stehen nur für sich selbst, genauso steht aber auch die Entscheidung des Zuschauers, sich dem auszusetzen, für sich selbst. Dath glaubt nicht an unbewusste oder pathologische Vorbedingungen, die den Genuss drastischer Kulturprodukte zu einer Kompensationshandlung machen würden.

Wer solche Szenen sieht, wird demnach sicher nicht selbst Passanten anfallen, genauso wenig wie jemand, der destruktive und aggressive Musik hört und Filme sieht, sich notwendig ein Schnellfeuergewehr kaufen wird, um Mitschüler und Lehrer niederzuschießen. Der Drastikkonsument sei als ganz normaler, ja durchaus bewusst und vernünftig handelnder Mensch zu betrachten, nicht als armer, kranker Irrer. Er ist kein willenloses Opfer eines niederträchtigen Produkts, er "züchtet" sich "seine Hornhaut", seine Abstumpfung "mit Bedacht". Drastik ist nicht "dionysisch", nicht als rauschhafte Entgleisung zu verstehen, sondern "apollinisch", als Produkt kristallklarer Vernunft, die dahin geht, wo's wehtut und den Schmerz aushält. Man kann den Dingen ins Auge sehen, allen Dingen, und daraus Überlegenheit ziehen. Was uns nicht umbringt, macht uns härter.

Und niemand sollte umgekehrt unverständliche Morde durch den Konsum von drastischen Kulturgütern zu erklären versuchen. Nur weil jemand keine 'normale' Musik hört, so Daths praktische Folgerung, ist die Ursache einer kriminellen Handlung nicht gleich im Konsum dieser Musik zu suchen.

Auch schlecht gemachte Filme oder Musik, die nach fiesem Krach klingt, können sehr bewusst und sehr gekonnt in Szene gesetzt sein. Die Drastiker in Ton und Bild möchte Dath nicht als haltlose Jugendverderber, sondern als hart arbeitende Handwerker verstanden wissen, die mit kühlem Kopf und einem "Präzisionsgebot" gehorchend immer neue, klare, schockierende Formen für Sex, Gewalt und Tod finden. Die Radikalität, mit der diese unweigerlich in jedes Menschenleben jederzeit einbrechen können, fängt kein konventioneller Ausdruck angemessen ein, es müssen ständig neue, schockierende Formen gefunden werden, um das Unverfügbare im Gedächtnis zu behalten.

Und hier - bei der abhärtenden und die permanente Gefährdung jedes menschlichen Lebens ins Bewusstsein rufenden Funktion der drastischen Darstellung - dockt Dath leider seine zweite These an, indem er der Provokation, die dem Drastischen innewohnt, eine aufklärerische Funktion zuschreibt. Im Bewusstsein der eigenen Gefährdung, so muss wohl Daths Theorie zusammengefasst werden, entwickelt das freie Subjekt einen kämpferischen Sinn für die eigenen Bedürfnisse, die es notfalls auch gegen Widerstände durchzusetzen gilt.

Diesen kämpferischen Sinn sieht Dath in heutiger Zeit schwinden. Zugespitzt klingt dieser Gedanke dann folgendermaßen: Im Drastischen habe der Geist der Aufklärung bislang das zweite Mittelalter, die neue Verdunkelung überlebt, es sei eben "der ästhetische Rest der Aufklärung nach ihrer politischen Niederlage" - mit dem Mittelalter und der politischen Niederlage ist die sogenannte Postmoderne und der Niedergang des Sozialismus gemeint, ein Gedanke, der seinerseits drastisch genannt zu werden verdient. "Die Schlitzer und Spritzer, Menschenfresser und Spermaluder der Kulturindustrie sind nicht die legitimen Kinder irgendwelcher verbürgerlichten Urtriebe, sondern die illegitimen der Vernunft. Sie sehen ihr nicht ähnlich, weil sie als Geburtstrauma die Wunden erben, die man der Vernunft durch fortdauernde unvernünftige soziale Praxis geschlagen hat." Unter der "unvernünftigen sozialen Praxis" muss wohl die gesellschaftliche Wirklichkeit des neokonservativ geprägten Kapitalismus unserer Zeit verstanden werden. Will man Dath folgen, so führt die Postmoderne - genauer gesagt der Postsozialismus und Posthumanismus - salopp gesagt zur kollektiven Verblödung, zum Verlust aller Errungenschaften der rationalistischen und materialistischen Vernunft. Dath spricht auch hier als Neomarxist und erklärt einen ganzen Weltzustand für unvernünftig. Für Differenzierungen ist er jedenfalls nicht zu haben, es gibt nur Freund und Feind. Ayn Rand lässt grüßen.

Und er geht noch weiter: Abneigung gegen Drastik und Verleumdung der Aufklärung, so Dath, gehen Hand in Hand. Vernunftkritik und Pornofeindlichkeit sind, so muss man wohl folgern, aus dem selben Holz geschnitzt. Müssten dann im Umkehrschluss nicht auch Pornokonsum und Rationalismus aus der selben Quelle stammen? Wahrscheinlich meint Dath mit 'Postmoderne' gar nicht primär Vernunftkritik, sondern die vielzitierte 'political correctness', ohne das allerdings deutlich zu machen. Genauso verwechselt er auch permanent - mit Absicht? - die Philosophie von Derrida oder Foucault mit ihrer banalen Schwundstufe im deutschen Lifestyle-Feuilleton.

Nun ist aber die Frage, ob diese Argumentation sich nun ästhetischer oder politischer Kategorien bedient und inwiefern Dath diese überhaupt unterscheiden kann und will. Politisch verstanden wäre der Splattermovie ein letztes Instrument der Aufklärung, das in Zeiten der Irrationalität Signale an die wenigen noch übrigen kämpferischen Sozialisten sendet - ein ziemlich spinnerter Gedanke mit Verlaub. Die Feinde eines solchen Denkens wären die Zauderer und Diskutierer einerseits, die Kriegsgewinnler und Großkapitalisten andererseits. Neoliberalisten und engagierte linksliberale Sozialpädagoginnen mit Helfersyndrom, die die Drastiker an der Hornhautbildung hindern wollen, müssen bekämpft werden. Daths "hyperstürmende" Argumentation läuft demnach immer auf eines hinaus: Aktion und Krieg. Und das ist nicht metaphorisch gemeint.

In seinem Weltvernichtungs- und -erschaffungsepos "Für immer in Honig" lässt er den Theoretiker unter den Kämpfern über die Obsoletheit des Prinzips Streik sinnieren: Da die Arbeiter angesichts von neoliberaler Deregulierung und einem Überangebot an Arbeitskraft ihre Interessen durch Streik nicht mehr durchsetzen können - schließlich kann die Firma dann einfach die Belegschaft, das Land oder gleich den Kontinent wechseln - bleibt den neuen Lohnsklaven nur noch der Krieg. Und da der im Roman ohnehin gerade tobt, wird dort gleich noch der Kapitalismus besiegt.

Natürlich würde Dath nie soweit gehen, den realen Krieg zu fordern, auch wenn ein gewisser frohlockender Zug zur Aufstachelung durchaus auffällig ist. Denn letztendlich ist das martialische Gehabe doch wieder nur rein ästhetischer Natur: das Spiel mit Formen und Motiven aus Genreliteratur und -film soll in der Praxis nur wach machen, den Kopf frei halten, die Grenzen des Vorstellbaren strapazieren - und vor allem gefallen. Viele Worte werden hier gemacht, um zu rechtfertigen, dass man an der Simulation von Mord, Totschlag und Greueltaten Spaß haben könne. Und Spaß macht die Lektüre der Dath'schen Romane allemal, vor allem die letzten Veröffentlichungen zeigen die Fortschritte, die dieser Autor bezüglich eines eigenen Tons gemacht hat, während ältere Erzähltexte oft noch hölzern wirken. Sein schwieriges Unterfangen, die avanciertesten Theoriediskurse in die gesprochene Rede jener von ihm als Helden bevorzugten "anintellektualisierten Proleten" zu integrieren, sie zu beiläufig und authentisch gesprochener Sprache zu machen und damit in den Lebensalltag zu integrieren, hat spätestens mit "Für immer in Honig" Früchte getragen.

Eine solche Zusammenfassung der Theorie, egal ob in politischer oder ästhetischer Hinsicht, nun aber als Daths Position zu verstehen, hieße dem mit allen Tricks postmoderner Textmanipulation vertrauten Autor in die Falle zu gehen. Denn sobald theoretisch Position bezogen und vom Konkreten aufs Allgemeine geschlossen wird, spricht nicht Dietmar Dath, sondern eine seiner Figuren in seinen Büchern - und zwar kontextbezogen. Auch wenn dabei Texte Daths im Namen der Figuren zitiert werden, so beschränken sie sich doch auf begrenzte und vor allem kontrollierbare Themenbereiche. Die großangelegte Spekulation bleibt der Literatur vorbehalten - mögliches Scheitern durchaus einkalkuliert.

Voller Freude treibt Dath auch das Verwirrspiel um den Grad der Identität seiner Figuren mit ihm selbst. Wie viel an seinen Texten autobiografisch ist, weiß er allein, es dürfte aber ein ordentlicher Anteil sein. In "Die salzweißen Augen" zeichnet der fiktive Briefautor David, den Dath natürlich nicht mit sich verwechselt wissen will, als für die Theorie verantwortlich. Wenn aber dieser David dann echte "Spex"- und "F.A.Z"-Artikel von Dath ausführlich bis vollständig als seine eigenen zitiert und schließlich nur mit D. signiert, fällt es doch schwer, zwischen Autor und Figur zu trennen.

Für eine psychologische Lesart ist auch die auffällige strukturelle Ähnlichkeit zwischen Davids Weltbild und seiner Situation als zurückgewiesener Liebender bedeutsam - der emotional orientierungslose, nahezu handlungsunfähige D. ereifert sich für eine Theorie des Konkreten, Direkten, Zweifelsfreien, ein Gegengift für alles Diffuse, ein schmerzhaftes Abschneiden aller Uneindeutigkeiten. Der Zauderer wird zum Apologeten des Kampfes für Deutlichkeit - Blut darf reichlich fließen, aber nur auf dem Bildschirm.

Diese Lesart wird übrigens von Dath durch die Konstruktion seines Textes ganz deutlich angeregt. Dem auch nach Jahren noch an seiner unerwiderten Liebe leidenden D. liest sein Freund Paul die Leviten: "Du mußt aufhören, das alles in der Spekulation auszutragen. Du mußt Dir was wirkliches einfallen lassen, und das dann auch machen. Nicht immer bloß tippen und schmauchen und spinnen." Auf dem Tisch den Hardcoreporno, im Kopf die Theorie, dass im Hardcoreporno die Aufklärung das neue Mittelalter überdauern wird und selbst auch als Erwachsener weder in der Lage, sich der Angebeteten zu offenbaren, noch sich endgültig von ihr zu lösen - was für ein Kontrast zum souveränen Pathos des Theoretikers!

Da hilft wohl nur schreiben, schreiben, schreiben, auch wenn es eher der Selbsterkenntnis dient als der Vermittlung an die Geliebte. Der drastischste Moment des Buches - er kann es mit den Zombieschlachten und Bombeninfernos des großen Romans durchaus aufnehmen - ist übrigens jener, als Daniel von der "bösen" Sonja erfährt, dass sie durchaus gewillt war, ihm eine Chance zu geben, er sich aber immer entzogen habe, einfach weggelaufen sei vor ihr. Die Schuld an seiner Misere fällt schlagartig auf ihn allein zurück, und die Egomanie seines ganzen Selbstentwurfs wird ihm damit schlagartig bewusst. Diese doch so private und schlichte Szene ist ein geradezu paradigmatisches Beispiel für Drastik, indem durch etwas ungeschönt Konkretes, Reales, nämlich die Annäherung der ferngeglaubten Sonja, das postpubertäre Wolkenkuckucksheim, das D. übermäßig lange schon 'schmauchend und spinnend' bewohnt, mit ein, zwei sehr klaren Sätzen schlagartig zum Einsturz gebracht wird. Die Realität lässt alle Spekulationen ganz plötzlich obsolet werden und befreit den darin Gefangenen. Was aber bleibt dann von der theoretischen Arbeit am Drastischen noch? Was haben Jahrzehnte des Drastikkonsums D. gebracht, wenn ein einziger offener Satz von ihr sein ganzes spekulatives Weltbild zunichte macht? Was diesen Moment so bemerkenswert macht, ist die Tatsache, dass erst hier der Dialog eröffnet wird, dem fabulierenden Ich ein Du ganz plötzlich gegenübertritt, zudem noch jenes Du, um das alle Spekulation immer kreiste. Dem in Splattergewittern gestählten Kämpfer im Geiste raubt das augenblicklich allen Schneid: D. flüchtet wie im Schock ein weiteres Mal vor ihr.

So erscheint am Ende die Theorie mehrfach gebrochen, eine Reflektion der Reflektion eines womöglich illusionären Originals und der Briefromanessay als postmoderner Text im besten Sinne.

So kompromisslos sich das Postmoderne-Bashing durch alle seine Bücher zieht, so avanciert postmodern (allerdings eher im Sinne Leslie Fiedlers als Lyotards) ist doch auch seine Prosa. Denn Dath spielt in allen seinen Romanen auf kaum zu übersehende Weise mit den Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit: Reales und Phantastisches werden gemischt, werden durch Übertreibung oder Assimilation untrennbar eins. Konkrete zeitdiagnostische Passagen werden in comicartig plakative Plots integriert, reale Personen der politischen Gegenwart geben jene Sprechblasen von sich, die man normalerweise von Comichelden erwarten würde. E- und U-Literatur werden zu einer diffusen Einheit überblendet.

Die eigentliche, 'echte' Wirklichkeit ist in Daths Prosa wesentlich unerkennbar, verbirgt sich hinter unzählbaren, gekonnt konstruierten Textspiegelungen, ist aber als Fake, als irritierend ähnliches Als-Ob immer anwesend. Diese Aufhebung der Wirklichkeit in Literatur spielt sich im Falle Daths, ähnlich wie beim deutlich weniger komplex arbeitenden Paul Auster an der Textoberfläche ab, im Bau der Erzählung mithilfe von Täuschungen, blinden Verweisen, falscher Authentizität.

So werden zum Beispiel in "Phonon", Daths Roman über seine Zeit bei der Kölner Musikzeitung "Spex", ganz konkrete Details des journalistischen Alltags und reale Personen unkaschiert beschrieben, aber vor einer mit Splattereffekten verfremdeten Kulisse: Während die Musikjournalisten ihrem Tagesgeschäft nachgehen, durchstreifen "Geister" (a.k.a. Zombies) das nächtliche Köln und fressen arglose Passanten, der Aberglaube regiert das Land, Kanzler Schröder hat die Staatsmacht an die Eulenprinzessin übergeben, auf Wissenschaftler wird Jagd gemacht. Die Zeichen einer großen Krise, eines Untergangs der Zivilisation mehren sich, am Ende bricht er denn auch los. Nur mit einem magischen Stein kann sich der überforderte Chefredakteur Martin Mahr schließlich gegen blutdurstige Fabelwesen wehren.

Bis zum bitteren Ende - nur wenige entfliehen dem Inferno - wird aber auch der reale Redaktionsalltag der wiedererkennbar realen Musikjournalisten präzise geschildert. "Phonon" erweist sich vor dem Hintergrund von "Für immer in Honig" als eine Episode aus dessen Handlungsgerüst, ebenso "Schwester Mitternacht", der pornographisch-pharmazeutische Thriller über eine enthemmende Droge, die noch die Figuren in "Für immer in Honig" gerne konsumieren. Selbst die Hauptdarsteller tauchen wieder auf: Martin Maar, Chefredakteur der "Phonon" wird zu Robert Rolf, dessen Vergangenheit als Chefredakteur der Kölner Musikzeitschrift "Spock" eine gewisse Rolle spielt, vor allem wegen jener Episode, in der Mahr alias Rolf Kontakt zu einer beeindruckenden, aber ein wenig sektiererisch-spinnerten Elektronikmusikerin namens Cordula Späth aufnimmt, bekannt aus Daths erstem Roman "Cordula killt dich", der wiederum eine erste Version des Plots von "Für immer in Honig" darstellt. Cordula Späth komponiert auch hier noch, vor allem aber setzt sie Zombiearmeen gegen die verkehrte Welt (des Turbokapitalismus) in Bewegung und kämpft mit ihren übersinnlich begabten Partisaninnen um Freiräume für die linksalternative Partybohème.

Ganz unumwunden gesteht Dath auch ein, dass sich hinter vielen Figuren seiner Bücher Freunde aus der Freiburger Jugendzeit verbergen, dass die Welt, die durch seine Romane nach und nach Kontur gewinnt, gar nicht nur seine ist, sondern an Grillabenden gemeinsam erfunden wurde und idealerweise auch gemeinsam literarisch genutzt werden sollte. Bislang ist aus dieser Gruppenarbeit nur Barbara Kirchners Science Fiction-Roman "Die verbesserte Frau" ans Licht der Öffentlichkeit gedrungen. Barbara Kirchner forscht hauptberuflich in der theoretischen Chemie und bringt das dort verfügbare Wissen ganz selbstverständlich in die Romanproduktion ein, zum Beispiel in "Schwester Mitternacht", das sie zusammen mit Dath geschrieben hat, aber eben auch in die "echten" Daths, die ohne das wissenschaftliche Fachwissen, das Kirchner ihm in Gestalt von Fachpublikationen verschafft, beiden zufolge nicht hätten geschrieben werden können. "Was scheinbar von Dietmar Dath erfunden ist, gehört nicht wirklich ihm", sagte sie in einem Interview über den Kosmos, in dem beide Bücher spielen.

Aber das postmoderne Spiel mit Phantasie und Realität, die popkulturelle Poetisierung der Welt gehen noch weiter: In mehreren Büchern Daths spielen die "Gruppe Pfadintegral" alias GPI und deren Anhänger, die "Gippies", eine entscheidende Rolle. Dazu Dath: "Es gibt diese fiktive politische Organisation, die mal in einem "Jungle-World"-Artikel von mir vorkam, die Gruppe Pfadintegral (GPI). Bis jetzt war das ein praktisches Instrument für Erzählungen oder journalistische Fakes, wo man diese Gruppe sprechen lassen konnte. Aber diesen Rahmen will es aus eigener Dynamik irgendwie sprengen. Und wir dachten uns, dass es gut wäre, wenn es die Gruppe wirklich gäbe."

Gesagt, getan. Barbara Kirchner referiert den Gründungsmythos folgendermaßen: Entstanden sei die Gruppe "eines Abends beim Grillen vor dem Haus in Freiburg, im Sommer 1997. Da saßen ein halbes Dutzend Leute, die merkten, dass sie etwas anderes wollen, dass da was fehlt. Dann hat man rumgesponnen. Und was dabei rauskam, war jahrelang eine Art e-mail-Gespenst."

Die Gruppe Pfadintegral hat es mittlerweile auf eine eigene Homepage und eine Buchveröffentlichung gebracht: der Roman "Phonon", in dem die GPI eine wesentliche Rolle spielen, ist im angeblichen Eigenverlag eben jener GPI auch veröffentlicht worden - als eine Art selbstreferentielles Kunstobjekt. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass diese Gippies auch in "Für immer in Honig" eine weltbedeutende und weltenrettende Funktion haben. Zu erwähnen wäre auch noch das fiktive Nachwort des GPI-Vordenkers Klemens August Braun zu "Schwester Mitternacht".

Ob es die Gruppe nun wirklich gibt und wie sie wirkt, ist die Frage, jedenfalls ist die geplante "Service-Tankstelle", bei der man fiktive Zeitschriften, Schriften der Gippies und Aufkleber kaufen können sollte - "alles, was die FDP auch anbietet, nur vielleicht mit etwas besseren Inhalten" - noch nicht in Betrieb gegangen. Offensichtlich ist also das Spiel mit Fiktion und Realität auch in Daths Lebensrealität ein wichtiger Faktor.

Aus dem Freiburger Freundeskreis ist dann übrigens auch der Implex-Verlag entstanden, der Daths neuere Veröffentlichungen, auch "Für immer in Honig" verlegt und an eine kleine Fanschar vertreibt. Auf der Homepage des Verlags kann Dath noch dazu seinen Spezialinteressen huldigen, auch wenn es mal nichts mit den Büchern zu tun hat. Hier liegt alles in einer Hand, alles ist möglich, die totale Kontrolle über das eigene Schaffen und dessen Verwertung. Das klingt geradezu traumhaft, aber warum ist der Autor Dath dann jetzt auch noch bei Suhrkamp gelandet? Gift im Essen, eine Entführung, erpresste Knebelverträge?


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Dietmar Dath: Cordula killt Dich oder wir sind doch nicht die Nemesis von jedem Pfeifenheini. Roman der Auferstehung.
Verbrecher Verlag, Berlin 1995.
172 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3980447103

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Barbara Kirchner / Dietmar Dath: Schwester Mitternacht. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2002.
340 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3935843143

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Barbara Kirchner: Die verbesserte Frau.
Verbrecher Verlag, Berlin 2003.
200 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3935843011

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Dietmar Dath: Sie ist wach. Über ein Mädchen, das hilft, schützt und rettet.
Implex Verlag, Freiburg 2003.
320 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-10: 3937148000

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Dietmar Dath: Phonon. Oder Staat ohne Namen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2004.
288 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3935843291

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Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
216 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 351841707X

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Dietmar Dath: Für immer in Honig. Illustriert von Daniela Burger.
Herausgegeben von Barbara Kirchner.
Implex Verlag, Freiburg 2005.
971 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-10: 3937148019

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