Die Kritik des spatial turn

Roland Lippuner erblickt in der Praxis den Prüfstein sozialgeographischen Arbeitens

Von Stephan GünzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Günzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst in diesem Jahr gestartet, ist bereits abzusehen, dass die Reihe der "Sozialgeographischen Bibliothek" im Franz Steiner Verlag für die deutschsprachige Geographie Maßstäbe setzen wird. Es ist ein offenes Geheimnis, dass sie schwer trägt am Erbe ihrer braunen Vergangenheit. Statt eines offensiven Umgangs mit Geopolitik und völkischer Anbiederung erfolgte zu weiten Teilen die Flucht zurück. Und zurück hieß: in die scheinbare Neutralität des physischen Geographierens. Alles Anthropogeographische galt mit den Erben Ratzels als diskreditiert. Verspätete Auseinandersetzung und Tabuisierung führten dazu, dass der internationale Anschluss verpasst wurde. Nur wenige Institute in Deutschland richteten sich auf die internationale Diskussion aus und befinden sich heute auf Augenhöhe mit der angelsächsischen Humangeographie.

Was die physische Geographie zu ihrem Selbstschutz installierte - die Ausgrenzung des 'menschlichen Faktors' - schlägt nun auf sie zurück. Die Annahme einer Arbeit auf rein 'naturräumlicher' Basis führt genau jene Ideologie fort, die auch dem Klimadeterminismus und der Behauptung von Naturraumgrenzen der Staaten zugrunde lag.

Verklärt wird die Auseinandersetzung durch einen anderen Faktor: Der sogenannte spatial turn, welcher die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften seit den 80-er Jahren erfasst hatte und sich zum Paradigma ausbildete, konnte manch Unbedarften in einem Raumdenken bestärken, das Einstein einmal als die Container-Vorstellung des Raumes angeprangert hatte: der Glaube an die Substantialität, Invarianz und Immobilität des 'Raumes'. Dieses Raumdenken entspricht, wie Einstein treffend bemerkte, der Verwissenschaftlichung eines psychologischen Vorurteils: des Raumes als Behälter, Zimmer oder Schachtel.

Hier setzt Roland Lippuner an. Er greift die Forderung einer exzeptionellen deutschsprachigen Sozialgeographie auf, deren Vertreter Dietrich Bartels, Gerhard Hard und Benno Werlen eine kopernikanische Wende im Raumdenken vollzogen, noch bevor die 'Wende zum Raum' namhaft wurde. Vor allem gegen einen allzu naiven Kulturalismus verteidigt Lippuner deren Annahme eines 'Geographie-Machens' oder einer 'Geographie ohne Raum': Es geht dabei jeweils um die irreführende Vorstellung von dem Raum gegenüber einer Räumlichkeit als Resultat oder Effekt des Sozialen. Die Wende im Raumdenken bedeutet für die Sozialgeographie damit einerseits eine Nachgeordnetheit von Raumverhältnissen und andererseits eine allseitige Konstruktion von Räumlichkeit.

Es ist von daher nur konsequent, dass sich Lippuner im zweiten Hauptteil seiner Arbeit detailliert mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns auseinandersetzt. Als Theorie sozialer Systeme zeichnet sie sich nicht nur dadurch aus, dass sie einen umfassenden Erklärungsansatz für alle erdenklichen Felder der Gesellschaft bietet, sondern auch dadurch, dass sie den Raum als Kategorie ausspart. Systeme sind selbsterhaltend und selbstbezüglich. Der physische Raum spielt in ihrer Autopoiesis keine Rolle. Lippuner, der mithin eine der besten Gesamtdarstellungen des Luhmann`schen Ansatzes seit langem liefert, kann aufzeigen, wo der blinde Fleck der Systemtheorie liegt: Es ist die Behauptung der Systemgrenze, die Luhmann nur operational bestimmen kann. Sie bildet gewissermaßen den - im Sinne Poppers - 'metaphysischen' Kern seiner Theorie. Entweder man ist drin oder draußen.

Die Sozialgeographie hält ein Konzept bereit, das zunächst vielleicht ebenso unwissenschaftlich erscheint, welches Lippuner aber im dritten Teil seiner Arbeit mit Hilfe einer Kritik der Theorie von Pierre Bourdieu aufklären kann: Alltäglichkeit. Bourdieu verstand darunter die Praktiken, welche Gesellschaft differenzieren und topologisch zu strukturieren vermögen. - Eben die 'Praxis' stellt aber die größte Herausforderung an den Diskurs der (Sozial-)Wissenschaften: Will sie nicht ihrerseits zur Ersatzideologie verkommen, muss sie - im Sinne Bourdieus - auch ihre eigene Praxis mit einbeziehen. Dies bedeutet also weder, dass sie den gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen, noch, dass sie ihrem eigenen Diskurs dem Gegenstand 'scholastisch' aufprägt. Wie Lippuner wiederum geduldig zeigen kann, liegt die Lösung mit und auch nach Bourdieu in einer Aufmerksamkeit auf eben diese Unvereinbarkeit, wissenschaftstheoretisch gesprochen: im Forschungsethos.

Durch die exakte Rekonstruktion und profunde Kritik eignet sich das Buch auch über die Geographie hinaus hervorragend für Historiker, Ethnologen sowie Soziologen, um sich über die tatsächlichen Implikationen des spatial turn zu informieren.


Titelbild

Roland Lippuner: Raum - Systeme - Praktiken. Zum Verhältnis von Alltag, Wissenschaft und Geographie.
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2005.
230 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-10: 3515084525

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