Ritualisierte Mysterien

Jan Assmanns fulminante "Zauberflöten"-Studie und Dieter Borchmeyers Liebeserklärung an die Liebe in Mozarts großen Opern

Von Günter MeinholdRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Meinhold

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Angesichts der gegenwärtigen und noch zu erwartenden Bücherflut zu Mozarts 250. Geburtstag am 27. Januar 2006 fällt dem Rezensenten Tucholskys Wort ein, demzufolge man acht Zehntel aller Bücher vor und ein Zehntel nach der Lektüre wegwerfen könne. Zu dem restlichen Zehntel, das zu lesen sich lohnt, gehören Jan Assmanns "Zauberflöten"-Studie und Dieter Borchmeyers Mozart-Buch "Die Entdeckung der Liebe". Während der Germanist Borchmeyer vor allem die sieben großen Opern Mozarts im Hinblick auf die sie bestimmenden Liebeskonzeptionen untersucht, widmet sich sein Heidelberger Kollege der Enträtselung des populärsten Werks Mozarts: der "Zauberflöte".

Der Neukantianer Herrmann Cohen bemerkte über das Libretto der "Zauberflöte" ebenso lapidar wie herablassend: "So ist denn auch das Urteil aller Gebildeten darüber einig, dass es keinen abgeschmackteren Text gibt und geben kann als den zur 'Zauberflöte'." Da aber nicht irgendjemand, sondern ausgerechnet Mozart dieses Libretto vertont hatte, versuchte man, Sinn in den vermeintlichen Unsinn des Textbuchs zu bringen. Da wurde Mozarts und Schikaneders Werk freimaurerisch interpretiert; sein Gehalt wahlweise mit den Illuminaten, den Rosenkreuzern oder Asiatischen Brüdern in Verbindung gebracht. In genuin politischen Deutungen wurde die "Zauberflöte" einerseits zu einem pro-, andererseits zu einem antijakobinischen Manifest gemacht. Man rückte dem Text mit psychoanalytischen Kategorien zu Leibe und rezipierte die Oper als Märchen, das nur Erwachsenen, nicht aber Kindern Probleme bereite, womit Bemühungen um eine Entschlüsselung dieses enigmatischen Werkes ebenso müßig wie überflüssig erschienen.

Die Frage ist nahe liegend: Was kann ein Autor, der sich in der überbordenden Forschungsliteratur zur "Zauberflöte" bestens auskennt, angesichts der über zweihundertjährigen Rezeptionsgeschichte Neues über die "Zauberflöte" sagen?

Jan Assmann, international renommierter Ägyptologe, präsentiert dem Leser die "Zauberflöte" als "Aufführung" - in mehreren Kapiteln erzählt er die Oper kommentierend nach, Text und Musik ausführlich analysierend. Wer technisch-musikalisch wenig versiert ist, möge sich während der Lektüre der entsprechenden Passagen eine der zahlreichen Einspielungen anhören; am besten solche, die darauf verzichten, die gesprochenen Dialoge zu kürzen. Die "Pausen" sind Abschnitten vorbehalten, in denen es um Kontexte und Hintergründe geht. Hier bietet Assmann auch dem "Eingeweihten" neue Erkenntnisse.

Für das späte 18. Jahrhundert lässt sich eine "Ägyptomanie" konstatieren. Sie fand, um nur ein Detail zu erwähnen, ihren Ausdruck in der Gartenkunst: Fast alle im späten 18. Jahrhundert und zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem von Freimaurern angelegten Gärten zeigten Pyramiden, Obelisken, Sphingen, Grotten und Ruinen. Assmanns Erklärung dieser Faszination erfolgt nicht historisch-antiquarisch: "Wie ist 'es' eigentlich gewesen?", sondern gedächtnisgeschichtlich: "Wie (warum, von wem und wann) wird 'es' erinnert?" In Freimaurerkreisen - vor allem in der Wiener Loge "Zur Wahren Eintracht" - wurde seinerzeit ein groß angelegtes Forschungsprojekt initiiert: die Erforschung antiker Mysterien. Hierbei sei es nicht allein darum gegangen, Impulse für die Ausgestaltung maurerischer Zeremonien und Ideen zu gewinnen, sondern - wichtiger noch - der als überlebt empfundenen Habsburger Monarchie die Utopie einer grundlegenden, auf evolutionärem Wege zu erreichenden Veränderung der gesellschaftlichen, politischen und religiösen Verhältnisse entgegenzusetzen: die Geburt der Wiener Spätaufklärung aus dem Geiste der Isis-Mysterien.

Diese verblüffende These erhärtet Assmann, indem er vor allem auf das monumentale Werk "The Divine Legation of Moses" (1738-1741) des englischen Bischofs William Warburton zurückgreift. Einen Staat, so Warburton, könne man nicht auf eine Vernunftreligion gründen, vielmehr bedürfe es zugleich einer (polytheistischen) Religion, mit deren Hilfe die aufgeklärte Elite das Volk regiere. Dieser manichäisch anmutende Antagonismus finde sich in der "Zauberflöte" - hier der elitäre Sarastro-Orden, dort die profane Papageno-Sphäre -, jedoch mit einem bezeichnenden Unterschied. Die Papageno-Handlung parodiere nicht nur die Einweihung (ohne dass dies dem sakralen Charakter Abbruch tue), sondern es zeichne sich eine "Allianz zwischen Volk und Elite" ab. Papageno wird zwar kein Eingeweihter, aber er wechselt die Fronten und verlässt das Reich der Königin der Nacht, in der Assmann den Aberglauben personifiziert sieht.

Der Vorstellung einer religio duplex fügt Warburton eine weitere Unterscheidung hinzu - die zwischen Kleinen und Großen Mysterien. Bei der Einweihung in die Mysterien solle der Neophyt zunächst Götter als das erkennen, was sie sind, nämlich Fiktionen, um dann, in einem zweiten Schritt, zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen, die zum Herrscheramt befähige. Einweihung in die Mysterien sei also Desillusionierung.

Und exakt darum gehe es in der "Zauberflöte"; sie sei eine ästhetische Inszenierung jener Mysterien im Gewand eines Rituals. Die Erkenntnis, dass es sich bei Mozarts Oper um ein Ritual handelt, ist alles andere als neu. Neu ist Assmanns Auffassung, die gesamte Oper zeige ein Ritual - also nicht nur die eigentliche Einweihungshandlung, die mit Taminos Erscheinen im Reich Sarastros beginnt. Tamino unterliegt zu Beginn einer Illusion, derzufolge ihm die Königin der Nacht als leidende Mutter und vorbildliche Regentin erscheint, Sarastro dagegen als "Bösewicht". Bekanntlich ändert sich diese Bewertung radikal, was bei vielen Interpreten zur Annahme eines logischen Bruchs geführt hat. Fasst man den Weg des Initianden Tamino als den von der Illusionierung zur Desillusionierung auf (und es spricht nichts dagegen, das zu tun), erledigt sich die immer wieder vertretene Bruchtheorie. Neu ist ebenfalls Assmanns Annahme, nicht nur der Prinz Tamino werde einem Initiationsritual unterworfen, sondern auch der Opernbesucher. Er verlasse das Theater als ein anderer, ein Aufgeklärter. Und dies funktioniere selbst dann, wenn man das Ritual nicht verstehe. Man muss nicht die boshafte Bemerkung machen, eine Oper sei für viele lediglich ein Fest der schönen Stimmen und der noch schöneren Kostüme, das man sich in alltagsentrückter Verfassung bereiten lasse - aber dass die Opernbesucher aus dem Theater gingen, innerlich gewandelt wie Tamino, eingeweiht wie Pamina, ist zweifelhaft.

Für die "Zauberflöte" war auch der Titel "Die Egyptischen Geheimnisse" im Gespräch (wozu nebenbei anzumerken ist, dass es in der "Zauberflöte" trotz ägyptisch anmutender Szenerie nicht um ein geografisches, sondern um ein symbolisches Ägypten geht). Dass die Oper einen anderen Titel erhielt, bringt Assmann zu dem Eingeständnis, die Erörterung der freimaurerischen Mysterienforschung könne zwar das Verständnis des Werks fördern, aber mit der Mysterienkonzeption sei "das Wichtigste vielleicht" noch gar nicht erfasst. In der Tat: Nur wenige der Besucher der Uraufführung 1791 dürften über die Mysterien-Hintergründe informiert gewesen sein - das hat sich nicht geändert. Und trotzdem war die "Zauberflöte" von Anfang an ein Erfolg und ist bis heute die im deutschen Sprachraum am meisten gespielte Oper geblieben. Assmanns Erklärung dieses Phänomens kann nicht überraschen: Kaum jemand würde sich für die "Zauberflöte" interessieren, wäre nicht Mozart der Komponist gewesen (so wenig, wie man sich für Schikaneders Fortsetzung der "Zauberflöte" - "Das Labyrinth", komponiert von Peter von Winter - interessiert hat, trotz einer Aufführung an der Bayerischen Staatsoper 1978). Musik also rangiere an erster Stelle; die Oper trage eben nicht zufällig den Titel eines Musikinstruments. Dieses zentrale Element verweist auf den Orpheus-Mythos. Tamino sei ein anderer Orpheus, an ihm zeige sich die Individuen und Gesellschaft verwandelnde Kraft der Musik und - der Liebe. Ohne sie, die Liebe, wäre die Einweihungshandlung gar nicht erst in Gang gekommen. Für das Besondere der "Zauberflöte", die Kombination von Musik, Liebe und Mysterium, prägt Assmann den Begriff "Mysterotomachia".

Assmanns glänzende Studie bereichert unsere Kenntnisse über die "Zauberflöte", und die Lektüre ist nicht zuletzt deshalb ein Gewinn, weil das schriftstellerische Temperament des Autors seinem "Gegenstand" - der Liebe zu Mozart - sprachlich gewachsen ist.

Assmann widmet sein Buch seinem Freund Dieter Borchmeyer; der wiederum dediziert sein Werk Assmann "in Freundschaft und gemeinsamer Liebe zu Mozart." Da ist das Stichwort wieder: Liebe. Borchmeyers Publikation trägt einen Titel, der zwar plakativ, aber irreführend ist. Was immer Mozart entdeckt haben mag, die Liebe war es nicht. Dies wird im Vorwort sogleich auch deutlich. Borchmeyer stellt ihm ein Zitat aus einem zum Teil von ätzender Schärfe durchzogenen Brief Mozarts vom 07. Februar 1778 voran. Mozart schreibt seinem Vater aus Anlass der Heirat eines adligen Freundes der Familie und nimmt dieses Ereignis zum Anlass, grundsätzliche Bemerkungen über das Liebe- und Eheverständnis "nobler" und "gemeiner" Leute zu machen. Für Aristokraten konstatiert Mozart Eheschließungen, die der Sicherung materieller und sozialer Interessen dienen und für die Liebe keine Rolle spielt. Gegen diese traditionelle, bis weit ins 18. Jahrhundert hinein reichende Trennung von Liebe und Ehe setzt der "gemeine" Mozart den "neuen empfindsamen Liebescode", in dem Ehe und Liebe untrennbar zusammengehören und Liebe als Voraussetzung einer Ehe verstanden wird.

Diese empfindsame Liebe transzendiert tendenziell die ständische Gesellschaft, und so kann Borchmeyer das Finalquartett im zweiten Aufzug der "Entführung aus dem Serail" ("Es lebe die Liebe!") pointiert den "Sturm auf die Bastille der traditionellen Liebescodes" nennen. Die "Liebe als Passion", mit Niklas Luhmann zu reden, ist allerdings Gefährdungen ausgesetzt, und zwar dann, wenn ihre von keiner rationalen und sozialen Selbstkontrolle beschränkte Leidenschaft zerstörerisch wird oder wenn es um Doppelliebe geht; man denke an Goethes "Stella" oder eben an Mozarts "Così fan tutte".

Die empfindsame Liebe bildet den "Goldgrund", von dem sich die Personen der sieben großen Opern Mozarts "leuchtend oder dunkel abheben" - z. B. der empfindsame Tamino aus der "Zauberflöte", "rasende Weiber" wie Elektra ("Idomeneo") und Vitellia ("La clemenza di Tito"), der Erotomane "Don Giovanni" und der liebestrunkene Cherubino ("Le nozze di Figaro"). Kenntnisreich analysiert Borchmeyer die sieben Opern, auch zitatenreich: Neben und über Marivaux, Lessing, Schiller, Wagner, Baudelaire, Thomas Mann, um nur einige Eideshelfer zu nennen, steht Goethe, der bekanntlich die "Zauberflöte" fortsetzen wollte. Warum dieses Projekt gescheitert ist (und eigentlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt war), erörtert Borchmeyer in einem eigenen, instruktiven Kapitel. Zum Schluss beschäftigt er sich mit dem Mozart der Dichter und Schriftsteller - vom jungen Goethe über Mörike bis zu Hanns-Josef Ortheil und Robert Walser.

Der furioseste Abschnitt, der allein schon die Lektüre des Buchs lohnend macht, gehört "Don Giovanni". Aber, darauf insistiert Borchmeyer, so heißt Mozarts und Da Pontes Oper ja gar nicht, sondern "Il dissoluto punito ossia Don Giovanni". Dieser Titel macht von vornherein klar, mit wem wir es zu tun haben - mit einem Wüstling, der am Ende, zu Recht, zur Hölle fährt, und nicht mit einem die Frauen bezaubernden romantischen Dämon. Der "Sündenfall" der Rezeptionsgeschichte lässt sich genau datieren: Er beginnt mit E. T. A. Hoffmanns Erzählung "Don Juan. Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen" aus dem Jahr 1813. In ihr erscheint Don Giovanni, wie gesagt, als romantischer Dämon, dem Donna Anna verfällt, obwohl Don Giovanni ihren Vater getötet und sie zu vergewaltigen versucht hat. Unbekümmert um das, was der Text tatsächlich sagt und ebenso unbekümmert darum, dass der "reisende Enthusiast" die Oper höchst selektiv wahrnimmt und nicht als Sprachrohr des Autors begriffen werden kann, hat sich weitgehend die Auffassung eines erotischen Verhältnisses zwischen Don Giovanni und Donna Anna durchgesetzt - in literarischen Bearbeitungen, in der wissenschaftlichen Literatur und in Inszenierungen. Wirkungsgeschichtlich mindestens genauso bedeutsam wurde Søren Kierkegaards Don Juan-Studie aus "Entweder-Oder". Der musikalische Don Juan sei, so Kierkegaards Ästhetiker (den man ebenfalls nicht mit seinem Autor identifizieren sollte), "absolut siegreich" - was mit der Handlung nichts zu tun hat; denn sämtliche Verführungspläne Don Giovannis scheitern. Dass zwei bedeutende Werke die Rezeptionsgeschichte derart bestimmen konnten - ein singuläres Phänomen -, erklärt Borchmeyer mit der grandiosen Musik Mozarts: "Allein die Faszination von Don Giovannis Musik hat den romantischen Don-Juan-Mythos hervorzurufen vermocht, der bis heute die wunderlichsten Blüten treibt. Man will einfach nicht wahrhaben, daß eine derart musikalisch faszinierende Gestalt ein Bösewicht sein soll." Das "Don Giovanni"-Kapitel ist nichts Geringeres als der mit Verve vorgetragene Versuch, der Rezeptionsgeschichte eine fundamentale Wendung zu geben: "Um einen Don Giovanni ohne 19. Jahrhundert bittend" lautet denn auch die Kapitelüberschrift.

Borchmeyer beschäftigt sich, wie könnte es anders sein, mit der Musik, aber er tut es als Philologe, der seine Erkenntnisse vor allem aus Texten gewinnt. Sollte man deshalb nicht eher den Librettisten Varesco, Stephanie, Da Ponte, Schikaneder und Mazzolà die "Entdeckung der Liebe" zuschreiben? Borchmeyer verweist in diesem Zusammenhang auf Mozarts intensive Beschäftigung mit den zu vertonenden Libretti und zitiert einen Brief aus der Zeit der Entstehung der "Entführung aus dem Serail". Für Osmins Arie Nr. 3 war "die hauptsache der Musick davon schon fertig, ehe [der Librettist] Stephani ein Wort davon wuste." Mozart war im Hinblick auf die zu komponierenden Textbücher keineswegs gleichgültig (wie etwa Wagner behauptete oder Hildesheimer z.B. für die "Zauberflöte" feststellte), und die Idee, Beaumarchais' "Mariage de Figaro" zu vertonen, ging, so kann man es in Da Pontes Lebenserinnerungen nachlesen, von Mozart aus. Aber er interessierte sich für die Texte, trivial das zu sagen, als Musiker. Für ein so anspruchsvolles Unterfangen, wie es Borchmeyers Buch darstellt, hätte das jedoch bedeutet, die meist großflächigen technisch-musikalischen Analysen, die er bietet, um detailliertere zu ergänzen.

In dem insgesamt sehr lesbaren Buch überwiegt in manchen Kapiteln die wissenschaftliche Diktion (so im "Vorwort", in dem Borchmeyer allerdings von dem Wort "Diskurs" zu häufig Gebrauch macht); in anderen dominiert die espritvolle, essayistische Schreibweise - mit einigen sprachlichen Nachlässigkeiten. So wird Joseph Haydn, der kein aktiver Freimaurer war, als jemand bezeichnet, der in seiner Loge kaum mehr denn als "Karteileiche" galt; Inszenierungen des "Dissoluto punito" geraten "ins Schleudern", Personen sind "modern-psychologisch unterkellert", und dem höfischen Publikum wird es ein wenig "mulmig".

Es ist anzunehmen, dass Assmanns und Borchmeyers Bücher mehr als eine Auflage erleben werden - und so möge man im Anhang zu Borchmeyers Werk einige Druckfehler beseitigen (es heißt natürlich "Le nozze di [nicht 'die'] Figaro" und Fiordiligi, nicht Fiordilis).


Titelbild

Jan Assmann: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
384 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3446206736

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Dieter Borchmeyer: Mozart oder die Entdeckung der Liebe.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
425 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-10: 345817267X

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