Rock ohne Überdosis

Tobias O. Meißners Heiligsprechung eines Stereotyps

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Übelste, was einem passieren kann, ist, ein Schatten seines eigenen Talents zu werden." Diese banale Weisheit gibt Floyd Timmen, Sänger der Gruppe Mercantile Base Metal Index (MBMI), seinem Drummer Nick kurz vor dem Beginn seiner Solo-Karriere mit auf den Weg. Was die Charaktere seines neuen Romans erfahren, trifft auf den Autor Tobias O. Meißner selbst zu. Sein glänzendes, so verworrenes wie vielseitiges Debüt "Starfish Rules", das den Leser durch seinen spielerischen Umgang mit den modernen amerikanischen Mythen so gescheit in seinen Bann zu ziehen wußte, findet in "HalbEngel" einen schwachen Nachfolger.

Erzählt wird die Geschichte von Floyd Timmen. Aufgewachsen im schlagzeilenträchtigen Harrisburg, Pennsylvania, und beschenkt mit einem phänomenalen Gehör befreit sich der aufmüpfige Junge aus der Enge der Provinz durch sein obsessives, inspiriertes Gitarrenspiel. Glück, die richtigen Kontakte und das eigene Talent führen ihn und seine Band MBMI schließlich zum Erfolg, in die Charts, auf Titelseiten und zu den MTV-Awards. Ein erfahrener Produzent und ein abgebrühter Manager geben dem Image und dem Sound der Band den letzten nötigen Schliff. Floyd erscheint auf Postern als Halbengel, "groß, mächtig und beschützend". Selbstverständlich kann das nicht schon alles gewesen sein, und sehr bald schon zeichnet sich das Ende der Band ab. Floyd scheint zu Höherem berufen; er verabscheut die Folgen des Erfolgs. Eine schicksalhafte Begegnung in Berlin mit einem "wahren", kompromisslosen Engel öffnet ihm die Augen.

Aus verschiedenen Perspektiven erschließt sich diese nur allzu bekannte Geschichte des am Erfolg zerbrechenden Pop-Stars. Meißners Held zerbricht zwar nicht, begibt sich aber auf eine dubiose Suche nach dem wahren Kern der Musik, die, da sie nur in knappen Ausführungen angedeutet wird, im Esoterischen verharrt. Zu oberflächlich wird hier eine mögliche Transzendenz der Musik thematisiert: Der HalbEngel Floyd, dessen Album von Fred "The Pope" Christie produziert wird und dessen Konzert zur Speisung der Gemeinde mutiert: "MBMI ist eine Blues- und Gospelband, ins Transzendentale verzerrt und mit dem Lärm des Armageddons aufgepumpt". Unzählige Vergleiche und Anspielungen rücken Floyd immer wieder in die Nähe von Jesus Christus. Die Bezüge zu Religion und Märchen erscheinen beliebig, so dass auch die Geschichte Floyds zu einer seltsamen Melange zufälliger Vergleichsmöglichkeiten und Stereotypen wird. Selten nur sind die notwendigen Übertreibungen ironisch gebrochen, wie etwa bei der Sprachimitation der Musikjournaille. Vielmehr soll der Rausch der Musik mit der Sprache transportiert werden, was aber nicht gelingt. Da hilft es auch nicht, dass Meißner sich offensichtlich in der Musikszene auskennt, auf zahlreiche Bands des Independent-Zirkus hinweisen kann und die professionalisierte Arbeit der unabhängigen Labels desillusionierend seziert: außer einem plumpen, aber verdienstvollen Seitenhieb auf Marius Müller-Westernhagen bleibt nicht viel im Gedächtnis. Zu konventionell, zu abgeschmackt ist die Geschichte des aufsteigenden Stars, der, angekommen im Pop-Olymp, bemerkt, daß er dort nicht hingehört und sich dann aufmacht, den richtigen Weg zur Heiligkeit zu finden. Die Vorbilder dieses Romans, die wahren Lebensläufe Elvis Presleys, Jimi Hendrix oder Kurt Cobains - in einzelnen Elementen finden sie sich in "HalbEngel" wieder, nur Überdosis und Kopfschuss fehlen - schrieben, leider, die tragischeren und besseren Geschichten. An ihnen muß sich dieser Roman messen lassen. Das Ausbleiben des tragischen Endes vermeidet nicht das Klischee.

Titelbild

Tobias O. Meißner: Halbengel.
Rotbuch Verlag, Hamburg 1999.
200 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3434530401

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