Zuhause war früher

Claudia Reinhardt fotografiert die Plätze ihrer Kindheit

Von Daniel BeskosRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Beskos

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"Heimat ist dort, wo wir begraben liegen", heißt es in einem Lied von Kante. Auch auf den Fotos von Claudia Reinhardt sind Gräber zu sehen. Gräber von Omas, Tanten, Nachbarn, Freunden und anderen, von all jenen eben, die einen Ort erst zu einer Heimat werden lassen. Angeregt von einem von ihr initiierten Seminar an der Universität im norwegischen Bergen ging Reinhardt der Frage nach, was Heimat ist, und gelangte schließlich zu einer konsequent subjektivistischen Herangehensweise: In ihrer Heimatstadt Viernheim in Südhessen fotografierte sie die Plätze, Häuser und Räume ihrer Kindheit und Jugend. Und eben auch die Gräber. Was zuerst auffällt, ist die Menschenleere - auf keinem der Bilder sind Personen zu sehen. Ganz so, als ob die Stadt zu einem Museum umfunktioniert worden wäre. Trostlose Schlafstädte für die umliegenden Großstädte, in die die Bewohner zu Arbeit fahren. Und dennoch wird klar, dass hier immer noch Menschen leben. Der geografische Rahmen allein, schreibt Reinhardt im Begleittext zu den Fotos, bilde die Heimat aber eben nicht wirklich ab, vielmehr erschafften "die psychologischen Kräfte der Bewohner eines solchen Gebietes" das, was man Heimat nenne.

Was Claudia Reinhardt in Wort und Bild festgehalten hat, sind Kindheitserinnerungen. Immer findet ein Abgleich statt: Wie fühlte sich das an, hier aufzuwachsen, nichts anderes zu kennen und diese kleine Stadt auf diese Weise zu einer ganzen Welt werden zu lassen? Einerseits. Und andererseits: Wie bewerte ich all das jetzt, aus der zeitlichen und vor allem auch räumlichen Distanz? Welchen Effekt hat der eine Schritt zurück, den die Fotografin von ihren Motiven gemacht hat?

Reinhardt erzählt Geschichten von einer katholischen Dorfidylle der 1970er Jahre, in der man sonntags in die Kirche ging und in der der samstägliche Familienausflug in den Odenwald ein kleines Highlight darstellte. Mit belegten Broten und einem frisch gewaschenen Wagen fahren die Eltern Reinhardt mit ihren sechs (!) Töchtern zum Wandern. Und das wohlig-erschöpfte Gefühl auf dem Heimweg, vorbei an beleuchteten Häusern und in Erwartung eine gemütlichen Abendessens, ist eine plastische und sicherlich verallgemeinerbare "Heimaterfahrung".

Doch wie erwartet hat die Idylle auch Risse: Wie viele der genannten Verwandten und Nachbarn etwa an Depressionen, Krankheiten oder einfach am Leben scheiterten, war offensichtlich schon für das Kind Claudia Reinhardt unübersehbar. Doch dass der Onkel F., bei dem Pornohefte auf dem Klo lagen und vor dem sich die sechs Schwestern daher fürchteten, "der Onkel ist, der in fast jeder Familie vorkommt", wird ihr erst im Nachhinein klar.

Und auch für den Leser tut sich ein Spalt auf: In dieser grauen, ungemütlich erscheinenden Kulisse, wie sie auf den Fotos erscheint, sollen alle diese - zum Teil eben doch heimelig verklärten - Kinderleben stattgefunden haben? Ja, man weiß das nur zu gut. Und: Nein, so richtig wahrhaben will man das nicht.

Eine sehr gelungene Auseinandersetzung mit der ureigenen Provinzialität in uns allen.


Kein Bild

Claudia Reinhardt: No place like home. Text-Bild-Band.
Verbrecher Verlag, Berlin 2005.
74 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3935843623

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