Portrait des Genies als Pessimist

Ein Sammelband untersucht den Einfluss Schopenhauers auf die Künste des 19. und 20. Jahrhunderts

Von Rainer ZuchRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Zuch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arthur Schopenhauer ist ein Mann im Schatten. In den philosophischen und ästhetischen Diskussionen der letzten Jahrzehnte hat er nur die Rolle eines Zaungastes gespielt. Diesen Platz hat er bis heute nicht verlassen. Vor allem seine eigenwilligen Rezipienten Friedrich Nietzsche und Richard Wagner hatten Schopenhauer an den Rand gedrängt, und dies gerade weil sie ihm viel zu verdanken hatten.

Günther Baum und Dieter Birnbacher hielten diese Randlage für ungenügend und scharten eine Reihe Gleichgesinnter um sich, um Schopenhauer aus der Versenkung zu holen. Nach ihrer Ansicht hat der Begründer der Willensmetaphysik zahlreiche bildende Künstler, Literaten, Dramatiker und Musiker des 19. und 20. Jahrhunderts beeinflusst, und zwar sowohl durch Nietzsche und Wagner wie auch an ihnen vorbei.

Der Sammelband geht auf eine Tagung der Schopenhauer-Gesellschaft in Frankfurt zurück, die bereits 1998 stattfand. Das ist schon ziemlich lange her, aber eine derart lange Produktionsdauer kommt bei Tagungsbänden leider immer noch vor. Dafür hält man nun ein sorgfältig erarbeitetes Buch in der Hand, das äußerlich und formal schon mal überzeugt.

Die Aufsätze des Buchs lassen sich drei Teilen zuordnen. Zunächst geht es um Schopenhauer selbst und seine Zeitgenossen, danach folgt der gewichtigste Teil mit Aufsätzen zur Rezeption in der bildenden Kunst. Daran schließen Texte zur Rezeption in Theater, Literatur und Musik an. Den Abschluss bildet ein Beitrag über Nietzsche.

Den Auftakt bildet Alfred Schmidts Verortung der Kunst in Schopenhauers Philosophiesystem. In einer gut nachvollziehbaren Argumentation widerspricht er der Auffassung, es gäbe eine grundlegende Diskrepanz zwischen Schopenhauers weltverneinender, geschichtsverachtender und asketischer Philosophie und seiner Hochschätzung von Kunst und Ästhetik, die angeblich eine affirmative Zuwendung zu den Dingen der Welt voraussetze. Ohne die verbleibenden Widersprüche unter den Teppich zu kehren, verweist Schmidt auf Schopenhauers Konzeption platonischer ewiger Ideen als "Objekt der Kunst", die unabhängig vom Sujet in jedem Bildgegenstand aufscheinen können. Hierauf gründet auch die Vorstellung vom Genie. Der geniale Künstler verstehe es, in seinen Werken die Ideen anschaulich, also sinnlich erfahrbar zu machen und damit "wahre Kunst" zu schaffen. Kunstschaffen und Kunstbetrachtung werden damit zu einem Mittel der Erkenntnis: Indem man in der Kunstbetrachtung die "Anschaulichkeit der Idee" erfahre, werde man der Geschichte, seiner individuellen Beschränkung und den Zumutungen des blinden, triebhaften "Willens", der den Menschen normalerweise beherrsche, enthoben. Kurz, in der Kunst wird der Kontakt zu einer metaphysischen Sphäre hergestellt.

Lothar Pikulik setzt sich mit dem ambivalenten Verhältnis des Philosophen zur Romantik auseinander. Wiewohl Schopenhauer deren Religiosität verdammte (für ihn war die Vorstellung von Gott eine überflüssige Krücke, quasi Opium für den erkennenden Geist) und das romantische Interesse an der Geschichte nicht teilte, stand er ihnen doch in vielem nahe: Geniekult, die Aufhebung der Grenze zwischen Subjekt und Objekt in der Kunstbetrachtung, die Analogie von Mikro- und Makrokosmos, die Überlegenheit des Bildes gegenüber den abstrakten Begrifflichkeiten der Sprache, generell die Vorstellung von der tieferen Begründung des menschlichen Daseins kennzeichnen prinzipiell übereinstimmende Vorstellungen.

Die Texte zur bildenden Kunst beschränken sich auf fünf Künstler. Künstler wie Max Klinger, Giorgio de Chirico und Max Beckmann lasen nachweislich Schopenhauers Werke und ließen seine Konzepte in ihre künstlerischen Theorien einfließen. Günther Baum stellt dies zunächst in einem Überblick ideengeschichtlich dar, bevor Thomas Röske für Klinger und Robert Zimmer für Beckmann monografische Nachweise liefern. Otto Pöggelers Text zur Rezeption in der Kunst des 20. Jahrhunderts ist für sich genommen zwar durchaus erhellend, bringt aber im Kontext des Sammelbands nichts Neues und wirkt hier eher redundant. Andreï Nakovs Thema ist die Rezeption bei Kasimir Malewitsch, die er in die überraschend umfassenden Schopenhauer-Kenntnisse in den künstlerischen russischen Avantgarden, namentlich des Symbolismus, einbettet. Hans Zitko findet bei Bruce Nauman künstlerische und weltanschauliche Konzepte, die eng an Schopenhauer anzuknüpfen scheinen, ohne daß eine direkte Rezeption nachweisbar wäre.

Zu Beginn der dritten Abteilung belegt Hartmut Reinhardt anhand verschiedener Dramatiker, dass es neben der tatsächlichen Rezeption (Thomas Bernhard) die zeitgleiche (Hebbel) wie auch die spätere, möglicherweise unabhängige Entwicklung ähnlicher Ideen (Dürrenmatt) gegeben hat. Danach stellt Bernhard Sorg eine Reihe von Autoren des 20. Jahrhunderts zusammen, deren Relevanz ebenfalls von nachweisbarer Rezeption bis zur Vertretung kohärenter Ideen reicht; die Spannbreite reicht dabei von Ernst Jünger bis Eckhard Henscheid. Ruprecht Wimmer kümmert sich um den bekennenden Schopenhauerianer Thomas Mann.

Ulrike Kienzle arbeitet die Rezeption im musikalischen Werk Wagners und Hans Pfitzners heraus, wobei sie den schwierigen Schritt der Übertragung philosophischer Ideen nicht nur in musiktheoretische Konzepte (dies fällt leicht dank Schopenhauers Hochschätzung der Musik), sondern auch in musikalische Strukturen und Notationen bewältigt.

Am Ende folgt ein Essay Werner Hofmanns über Nietzsche als Vordenker ästhetischer Theorien der Moderne. Der kenntnisreiche und instruktive Artikel steht leider recht zusammenhanglos da, zumal er in keiner Weise Bezug auf die anderen Beiträge nimmt.

"Schopenhauer und die Künste" zeigt, dass Schopenhauer auch nach Nietzsches Aufstieg zum Übervater der klassischen Moderne relevant geblieben ist. Dabei legt der Band rezeptive Leitlinien offen, die in der wiederholten Aufnahme bestimmter Konzepte wie des Geschichtspessimismus, der Willensmetaphysik, verstanden als eine Art Vorläufer und Grundleger tiefenpsychologischer Trieblehren einschließlich der Überhöhung der Sexualität, der Genielehre und der Funktion der Kunst als Veranschaulichung absoluter Ideen bestehen.

Der Wert des Bands liegt aber nicht nur einfach darin, wichtige Aspekte der Schopenhauer-Rezeption zwischen zwei Buchdeckeln zu bündeln. Beachtenswert sind auch die verstreuten Hinweise auf die Bezugnahmen weiterer Künstler, die noch aufzuarbeiten sich lohnen würde, und die in den meisten Beiträgen anklingende Verwandtschaft individueller Künstlertheorien mit Schopenhauers Philosophie. Dabei ist der Einfluss des letzteren oft schwer auszumachen, da es eine Menge Überschneidungen mit der Romantik gibt und Künstlertheorien philosophische Konzepte oft sehr eigenwillig verarbeiten. Gerade im Vergleich mit der Romantik zeigt sich, dass Schopenhauer eben keine philosophische Sackgasse darstellt, sondern an außerordentlich einflussreichen, das 19. und 20. Jahrhundert prägenden geistigen Strömungen partizipierte. Auf diese Weise könnten seine Vorstellungen auch auf Künstler gewirkt haben, die noch nie von ihm gehört haben.


Titelbild

Günther Baum / Dieter Birnbacher (Hg.): Schopenhauer und die Künste.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
328 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3892449473

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