Truffauts Kino

Seine Ästhetik in Filmkritiken und Aufsätzen

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

François Truffauts Kindheit verlief ebenso unglücklich wie die seines kleinen Helden Antoine Doinel in seinem ersten großen Filmerfolg "Les Quatre Cents Coups" ("Sie küßten und sie schlugen ihn", 1959). Zu Hause vernachlässigt und in der Schule unverstanden, verbrachte Truffaut einige Zeit in einer Erziehungsanstalt, ehe er mit 15 Jahren Arbeiter in einer Fabrik wurde. Trost fand er allein in der Dunkelheit der Filmtheater. So begann er noch als Jugendlicher damit, sich in der Organisation von Filmclubs zu engagieren. Seine Begeisterung für das Kino ließ schließlich den Filmkritiker André Bazin auf ihn aufmerksam werden, der ihn in die Redaktion seiner Filmzeitschrift "Cahiers du Cinéma" aufnahm. Der Militärdienst, zu dem Truffaut eingezogen wurde, bedeutete nur eine vorübergehende Unterbrechung seiner Karriere als Filmkritiker. Truffaut desertierte, wurde zu Gefängnishaft verurteilt und wenig später unehrenhaft aus der Armee entlassen. Wieder bei den "Cahiers" brachten ihn seine Essays in den Ruf eines der unerbittlichsten und sarkastischsten Filmkritiker seiner Generation. Truffaut prangerte das zeitgenössische französische Kino als snobistisch und künstlich an. Indem er das Werk kommerzieller Filmemacher aus den USA, zuweilen sogar von Regisseuren zweitklassiger Action-Streifen künstlerisch aufwertete und wider den Trend in seiner Heimat stellte, avancierte er zu einem der bedeutendsten Wegbereiter des Autorenkinos.

"Die Lust am Sehen" versammelt 63 Aufsätze, die zwischen 1954, als Truffaut als Kritiker zu arbeiten begann, und 1984, dem Jahr seines Todes, entstanden sind. Der Band ist als Fortsetzung der schon 1975 veröffentlichten Anthologie "Die Filme meines Lebens" gedacht. Bedenkt man, dass Truffaut allein zwischen 1953 und 1958 rund 700 Filmkritiken und Aufsätze über das Kino verfasste, so wird rasch deutlich, warum "Die Lust am Sehen" nur eine Auswahl aus der schier unüberschaubaren Fülle von Beiträgen bieten kann, eine Auswahl freilich, die nicht nur drei Jahrzehnte der Filmkritik dokumentiert, sondern auch ein breites thematisches Spektrum abdeckt. Kritiken und Polemiken, darunter der epochemachende Aufsatz "Une certaine tendance du cinéma français" ("Eine gewisse Tendenz im französischen Film", 1954), stehen neben Hommages, in denen Truffaut sowohl seiner Bewunderung für Regisseure wie Renoir, Hitchcock, Welles, Chaplin, Rossellini oder Woody Allen und für Schriftsteller wie Gide, Giraudoux oder Roché als auch seiner Verehrung für Schauspielerinnen wie Jeanne Moreau, Catherine Deneuve, Isabelle Adjani, Julie Christie und Fanny Ardant Ausdruck verlieh, deren Schönheit und künstlerische Fähigkeiten ihn gleichermaßen faszinierten.

Dass die Texte von "Die Lust am Sehen" gut und flüssig lesbar sind, ist ein Verdienst des Übersetzers Robert Fischer, der sich auch als Herausgeber für den Band verantwortlich zeigt. Immer wieder gelingt es Fischer, der sich in zahlreichen Publikationen mit dem literarischen und filmischen Schaffen seines Freundes auseinandergesetzt hat, den Texten Nuancen und Untertöne Truffautscher Diktion abzulauschen und sie in einer Sprache wiederzugeben, die einmal nicht Imitation mit Originalität verwechselt. Ein sorgfältig erarbeitetes Quellenverzeichnis, um das der Herausgeber die französische Vorlage ergänzt hat, erleichtert das Auffinden der Erstdrucke, das Register bietet eine nicht zu unterschätzende Hilfestellung bei der künftigen Auseinandersetzung mit Leben und Werk des französischen Regisseurs.

Titelbild

Francois Truffaut: Die Lust am Sehen.
Verlag der Autoren, Frankfurt 1999.
412 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3886612155

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