Vom schönen Schein und verpassten Revolutionen

Martin Heideggers Seminar über Schillers "Briefe zur ästhetischen Erziehung des Menschen"

Von Mario WenningRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Wenning

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Protokoll zu Heideggers Freiburger Seminar ist in der Marbacher Bibliothek aus Anlass des mittlerweile verstrichenen Schillerjahres erschienen. Die Veröffentlichung geschieht außerhalb der Gesamtausgabe, da zu dem Seminar, das im Wintersemester 1936/37 stattfand, kein durch Heidegger autorisiertes Manuskript vorliegt. Heidegger, der "Nachschriften" als "trübe Quellen" bezeichnete, stünde dieser Veröffentlichung wohl eher skeptisch gegenüber. Die Seminarmitschrift ist auf Grund der Nähe zu der berüchtigten Rektoratsrede und der von Heidegger selbst proklamierten "Kehre" trotzdem von Interesse. Sie vermittelt einen Einblick in Heideggers Denkweg, der auf Grund der Verflechtung mit dem Nationalsozialismus immer auch in einem politischen Kontext steht und zu betrachten ist. Das Seminarprotokoll ist für die Heideggerforschung aufschlussreich, da dokumentiert wird, wie intensiv sich Heidegger mit Schiller, der in seinen veröffentlichten Schriften so gut wie nicht erwähnt wird, auseinander setzte.

Die Auseinandersetzung mit Schillers "Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" - genauer konzentriert sich Heidegger auf die Briefe 19 bis 22 - gibt Einblick in die philosophische Werkstadt des weltentrückten Fundamentalontologen. Von einem Seminar im Sinne eines gegenseitig gewinnbringenden Austauschs zwischen Lehrenden und Lernenden kann bei der Veranstaltung genauso wenig die Rede sein wie von der in der Ankündigung versprochenen "Übung für Anfänger." Abgesehen von Protokollen und einer einzigen Verständnisfrage deklamiert Heidegger großmeisterlich über jene Aspekte Schillers, die für ihn wertvoll sind, sich aber als äußerst selektiv erweisen. Das Gesamtbild der Schiller'schen Briefe wird nicht vermittelt. Zentrale Aspekte, wie die für die Rezeptionsgeschichte bedeutende Kulturkritik und das Ideal der ästhetischen Erziehung, werden nicht einmal erwähnt.

Was zog Heidegger 1936/37 zu Schiller hin? Mit der Hinwendung zu den ästhetischen Briefen ist die Brücke zum Politischen bereits geschlagen. Schillers Analyse des ästhetischen Zustands stellt den Versuch dar, die spätestens seit der Enthauptung Ludwig XVI. und der Terrorherrschaft gescheiterte französische Revolution zu überdenken. Es liegt nahe, Heideggers Interesse an Schillers Briefen als Überwindung seiner anfänglichen Sympathien für die nationalsozialistische Revolution zu interpretieren. Unter wesentlich unterschiedlichen Voraussetzungen versuchen beide, so die These des emeritierten Gießener Philosophen Odo Marquard in seinem originell polemischen Nachwort, nach ihrer Bauchlandung zerstoßene Hoffnung in die Revolution ästhetisch durch gelungene Kunst bzw. ästhetische Erfahrung zu kompensieren. Ob die Bauchlandung der Revolution in einen gangbaren Ausweg münden kann oder das Scheitern nur philosophisch wiederholt wird, hängt davon ab, welcher Stellenwert der ästhetischen Erziehung beigemessen wird. Soll sie nur Mittel sein, oder ist sie Selbstzweck? Stellt sie die politische Revolution ästhetisch in Frage, oder ersetzt sie diese? Für beide Lesarten lassen sich genügend Belege bei Heidegger und Schiller finden.

Der Verdacht erhärtet sich, dass, wie es Gadamer über Schiller feststellte, die Erziehung durch Kunst auch bei Heidegger zu einer Erziehung zur Kunst wird und somit politische Auseinandersetzung ersetzt. Die Hinwendung zum Ästhetischen mit Marquard pauschal als Abwendung von der Wirklichkeit und antibürgerliche Revolution zu verwerfen, die in einem "ästhetischen Fundamentalismus" münde, ist jedoch voreilig.

Erst einmal sollte die Möglichkeit ernst genommen werden, dass die von Lukacs über Benjamin bis zu Adorno und eben auch Heidegger vollzogene Aufwertung der Ästhetik auch als Thematisierung von Problemen verstanden werden kann, die in der Politik aufgeworfen, aber von dieser nicht zu lösen sind.

Der philosophische Gehalt, den Heidegger aus den ästhetischen Briefen zieht, besteht in der Vermittlerrolle der ästhetischen Erfahrung. Die sich in der Moderne antagonistisch verhaltenden Gegensätze von Vernunft und Sinnlichkeit, die von Schiller als Form- bzw. Stofftrieb eingeführt werden, sollen im ästhetischen Spieltrieb ihren versöhnlichen Ausgleich erfahren. In dieser vom schönen Schein geläuterten Verfassung soll die Freiheit ansetzen und der moralischen Selbstentfaltung Platz bieten können.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es Heidegger weniger um ein Verständnis der Argumentation der ästhetischen Briefe als um eine ontologische Bestimmung des Kunstwerks geht. So wird Dürers Hase, das neben einem Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer eingehend erläuterte Kunstwerk, herangezogen, um den Wandel des Seinsverständnisses vom Mittelalter zur Moderne zu verdeutlichen. Die Singularität des dargestellten Hasen ist erst nach der nominalistischen Wende am Ausgang des Mittelalters möglich.

Heideggers Überzeugung, dass wir Heutigen nicht mehr wie Dürer im "Diesen" (dem einzelnen Hasen) eine Wesenheit (das Hasensein) auszudrücken vermögen, sondern nur noch Vereinzelung kennen, ist nicht überzeugend. Ist es nicht gerade die Fähigkeit moderner Kunst, universale Entfremdung und Vereinzelung exemplarisch zum Ausdruck zu bringen? Doch die sozialkritische, auf universale Erfahrung abzielende Funktion moderner Kunst hat bei Heidegger keinen Platz. Die jeweils ästhetisch erschlossene Welt ist geprägt von weltentrückter Stimmigkeit und Harmonie. So bringt das Meyer'sche Gedicht "das Sein der strömenden Ruhe und des ruhenden Stromes" zum Ausdruck. Dass die thematisierten Werke dem klassischen deutschen Kanon entnommen sind und Gegenwartskunst nicht einmal erwähnt wird, bekräftigt den Eindruck, dass der Gang zum Ästhetischen weniger Ausweg als Rückzug vom Politischen und konkreten geschichtlichen Ereignissen signalisiert. So ist die Wende zum schönen Schein bei Heidegger nicht nur schön, sondern vor allem auch Schein, der in seiner totalen ästhetischen Bestimmbarkeit politisch unbestimmt bleibt.


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Martin Heidegger: Übungen für Anfänger. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Wintersemester 1936/37. Mit einem Essay von Odo Marquard.
Herausgegeben von Ulrich von Bülow.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach 2005.
206 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3937384146

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