Labyrinthe und Sackgassen

Marina Rauchenbacher verfolgt Erzählwege bei Perutz und Lernet-Holenia. Dabei steckt sie sich ein zu weites Ziel

Von Ursula KocherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Kocher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wäre die Arbeit von Marina Rauchenbacher narratologisch zu untersuchen, müsste man sie mit dem Etikett 'unzuverlässiges Erzählen' belegen, denn ihre Ausführungen geben Anlass zu Zweifel und Verwirrung. Dabei scheint das Buch klar aufgeteilt und mit einer klaren Fragestellung versehen - das heißt, eigentlich sind es mehrere Fragestellungen. Sie werden nach einem ersten Absatz in der Einleitung unvermittelt in den Raum gestellt: "Wie werden Zeit bzw. Zeit-Räume von Individuen erfahren? Wie wird die Erfahrung von Zeit mit Dingen und Räumen verknüpft? Wie hängt die Wahrnehmung von Zeit und Raum mit Erinnerung und Identität zusammen?"

Nicht dass die Fragen sinnlos oder uninteressant wären, aber verwundert nimmt man als Leser an dieser Stelle das erfreulich schlanke Buch in die Hand und fragt sich, ob das nur der erste Band in einer größeren Reihe ist. Vor allem aber rätselt man, wo diese fundamentalen Fragen angesichts eines netten, aber doch wesentlich einfacheren Einstiegs über eine Erzählung von Leo Perutz vom Himmel gefallen sein mögen. Und eben diese Fragen nach dem Woher und Warum verfolgen den Leser auf den folgenden Seiten permanent - obwohl, auch das sei gleich angemerkt, einige Passagen der konkreten Untersuchung an Texten als sehr gut gelungen zu bezeichnen sind.

Es geht Marina Rauchenbacher offensichtlich darum, an Texten von Perutz (v. a. "Der schwedische Reiter") und Lernet-Holenia (v. a. "Beide Sizilien") herauszuarbeiten, in welches Verhältnis sich 'der Mensch' zur Welt setzt, und das heißt, wie Zeit und Raum erfahren werden. Dass hier zwei völlig unterschiedlich dimensionierte Bereiche aufeinanderprallen - wie übrigens bereits anhand von Titel und Untertitel bemerkt werden kann - scheint Rauchenbacher nicht zu sehen. Natürlich sind diese Fragen spannend und wichtig, aber kann die Verfasserin durch Textlektüre am Ende mehr als eine Aussage darüber treffen, wie sich die Figuren in den Erzählungen der von ihr gewählten Autoren Zeit und Raum erfahren? Natürlich nicht. Ihr Anspruch aber geht durchweg darüber hinaus.

Um ihr weites Ziel zu erreichen, muss Rauchenbacher zunächst die Begriffe Zeit und Raum "operationalisierbar" machen. Dazu zieht sie drei Theorien heran: Bachtins Chronotopos-Theorie, Martínez' Theorie der Doppelten Welten und Todorovs Theorie der fantastischen Literatur.

Auch hier lässt sich nicht eindeutig sagen, dass die gewählten Theorien unpassend wären. Man fragt sich nur, warum gerade diese ausgewählt wurden, denn ihre Auswahl bleibt unbegründet und beliebig. Rauchenbacher bewegt sich durch die Theorien wie durch einen Supermarkt. Ihre Autoren schreiben historische Romane, also greift sie ins Eco-, Döblin- und Aust-Regal. Möglich wären auch andere Produkte gewesen. Ab und zu gibt es Märchen und Fantastik - da sind Todorov und Alewyn gefragt, u.s.w.

Am Ende blickt der Leser in einen vollen Einkaufswagen mit bunten Packungen, ohne rechten Gewinn davon zu haben und teilweise ohne Verbindungen ziehen zu können. Die Theorie wird so zum bloßen Maßstab von Beobachtungen, ohne der Ausgangspunkt zu sein, von dem aus sich Methoden im Umgang mit den Texten entwickeln lassen. Marina Rauchenbacher traut ihrer eigenen Lektüre nicht.

Absolut grundlos. Denn die Kapitel zu den beiden Autoren Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia bergen für sich genommen sehr spannende Beobachtungen - dafür hätte es des theoretischen Sammelsuriums des Anfangs nicht bedurft. Die mühsam zusammengetragenen Theorien kommen auch nur noch als Verweise vor (öfter wird eine "Doppelte Welt" konstatiert oder auf die Existenz eines angeblichen Chronotopos hingewiesen), und, um auf den Titel der Arbeit zu sprechen zu kommen: Um Narration geht es nur im allgemeinsten Sinn, um Narratologie überhaupt nicht, es sei denn, man sieht die häufige Erwähnung von 'histoire' und 'discours' sowie die nicht näher begründete Behauptung von 'multiperspektivischem Erzählen' als Ausweis erzähltheoretischen Arbeitens. Die angeblichen Analysen sind keine, sondern - zum dritten Mal wiederholt - zum Teil sehr gute und genaue Interpretationen. Dabei hätten einige Überlegungen, wie z. B. die zur 'Dauer' begründeten Anstoß zu narratologischen Gedanken geben können.

So beschränken sich die Erkenntnisse der Arbeit auf Sätze wie: "Sowohl Erinnerung als auch Identität erweisen sich dabei u. a. als eng zusammenhängend mit Raum und Zeit."

Am Ende steht der Hinweis, dass die "Beschäftigung mit der Vergangenheit und deren Verflechtung mit der Gegenwart [...] ein höchst subjektiver Prozess" sei. Dies wird laut Rauchenbacher deutlich "an der oben zitierten Reaktion Fausts oder in Benjamins Aufsatz 'Über den Begriff der Geschichte' und natürlich auch an der Verarbeitung von Geschichte in den Texten Leo Perutz' und Alexander Lernet-Holenias". Die Figuren sind existenziell verunsichert: "Die Wahrnehmung des Einzelnen von Zeit, Raum und Dingen scheint nur mehr mit Bezug auf Numinoses erklärbar."

Diese allgemeinen Aussagen konnte die Verfasserin tatsächlich anhand der gewählten Erzählungen belegen. Das verwundert aber nicht. Was vorher schon klar war, wurde einfach ausschmückend wiederholt. Die zu Beginn gestellten Fragen allerdings bleiben unbeantwortet.

Dass Rauchenbacher ihr Ziel nicht erreicht, liegt an ihr selbst. Wer sich Ziele zu weit steckt und selbst wie in einem Barockgarten Labyrinthe und Sackgassen davor baut, muss sich nicht wundern, wenn diese nicht erreicht werden. Gut ist die Arbeit, wenn man die eigene Erwartung am Untertitel des Buchs ausrichtet und nichts anderes erwartet als eine gründliche Lesung von Perutz und Lernet-Holenia-Texten. Eben das ist daher vorzuschlagen.


Titelbild

Marina Rauchenbacher: Wege der Narration. Subjekt und Welt in Texten von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia.
Edition Praesens, Wien 2006.
157 Seiten, 24,30 EUR.
ISBN-10: 3706903598

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