Epilog zum Fernsehen

Jürgen Bertrams späte Kritik des öffentlich-rechtlichen Fernsehens

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Was aus dem Fernsehen werden mag, läßt sich nicht prophezeien", schrieb Theodor W. Adorno in einer Studie des kommerziellen US-Fernsehens in den frühen fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. "Was es heute ist, hängt nicht an der Erfindung, nicht einmal an den besonderen Formen ihrer kommerziellen Verwertung sondern am Ganzen, in welches das Mirakel eingespannt ist." Mehr als ein halbes Jahrhundert später ist vom vagen Versprechen des Fernsehens - weder in seiner kommerziellen noch in seiner öffentlich-rechtlichen Ausprägung - kaum etwas übrig geblieben. Allenthalben regiert der Verrat. Letztlich hat jede Gesellschaft das Fernsehen, das sie verdient. Gerade haben die öffentlich-rechtlichen Anstalten NDR und WDR anlässlich ihres fünfzigjährigen Bestehens Rückschau auf ihre Produktionsgeschichte gehalten und zumeist Lobhudelei in eigener Sache betrieben, als nun Jürgen Bertram, der langjährige Asienkorrespondent und Leiter der Abteilung Zeitgeschehen im NDR in der Zeit von 1995 bis 2000, mit einer späten Abrechnung aufwartet: "Wohl keine Institution in Deutschland hat sich seit der Gründung so radikal verändert", lautet sein Resümee, und die Veränderung verlief nicht zu ihrem Vorteil.

Bertrams Report "Mattscheibe: Vom Ende der Fernsehkultur" gibt zunächst einen biografisch geprägten Abriss der Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Zunächst beschreibt er den Beginn des Rundfunks im Nachkriegsdeutschland, dessen Geburtshelfer Hugh Carlton Greene war, der als britischer Kontrolloffizier die Gründung des NWDR begleitete. Bereits von Beginn an galt es, das Medium Rundfunk gegen den autoritären Zugriff von Parteien, Verbänden und Interessengruppen zu verteidigen. In der Folgezeit war es nicht nur die Einflussnahme von außen, die das System an den Rand des Ruins brachte, sondern die destruktiven Kräfte wirkten auch von innen, indem Positionen innerhalb des Apparates streng nach Regeln des Rechts-Links-Proporzes besetzt wurden - ungeachtet der Qualifikationen und Fähigkeiten der betreffenden Personen. In den späten siebziger Jahren bliesen die Konservativen schließlich zum Sturm auf die Festungen der Anstalten des vorgeblichen "Rotfunks" in Hamburg und Köln. Die Zerschlagung des NDR ging einher mit der Etablierung privatkapitalistischer Sender auf der einen Seiten sowie der scheinhaften Regionalisierung und tatsächlichen Provinzialisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf der anderen Seite. Resultat dieser Prozesse waren schließlich Kommerzialisierung, Trivialisierung und Boulevardisierung auf allen Ebenen der Medienindustrie. Immer weniger unterschieden sich ökonomische, politische und fachspezifische Interessen; Qualitätsverlust und Quotenfetischismus schritten Hand in Hand voran, und nahezu zwangsläufig wurde das Personal entweder korrumpiert oder resignierte angesichts des Ausverkaufs aller professionellen und ethischen Standards.

Den Niedergang der "Fernsehkultur" lastet Bertram nicht allein den Machtinteressen einzelner Polit-Rackets christ- oder sozialdemokratischer Provenienz an, sondern auch bestimmten Ausprägungen eines ideologisch gefärbten Journalismus, wie er beispielsweise in den siebziger Jahren im Polit-Magazin "Panorama" gepflegt wurde. Dort kamen "Attitüden, Allüren und Methoden" zum Tragen, die "den politischen Usurpatoren des Senders eine Steilvorlage nach der anderen" lieferten. Es herrschte eine "Diskrepanz zwischen Postulat und Praxis": Während in den Magazinbeiträgen die kapitalistische Gesellschaft einer schneidenden Kritik unterzogen und das Lob auf den "einfachen Menschen" in maoistischer Manier gesungen wurde, nahmen diese "schärfsten Kritiker" an der Schickeria-Kultur Hamburgs teil. In der Redaktion selbst sahen sich die Journalisten als Teil eines elitären Zirkels, in dem eine "jakobinische Fallbeil-Mentalität" gegenüber Andersdenkenden herrschte. So wurde der Apparat nicht allein von außen von Rackets unter Druck gesetzt, sondern im Apparat selbst etablierte sich eine Struktur von Rackets, die sich gegen andere verhärtete und die Individuen, die sie konstituierten, als auch den Journalismus verhärteten. Später, als der Zeitgeist vom "radical chic" zur "geistig-moralischen Wende" polterte, wurde die handelnden Figuren ausgetauscht, doch die Struktur der Rackets blieb.

Der Vorzug des Buches ist sein biografischer Hintergrund. Zugleich aber ist dies auch sein Nachteil, da gesellschaftliche Entwicklungen weitgehend unberücksichtigt bleiben. Aus eigener Anschauung und in Interviews mit Kollegen seiner Generation (die sein Unbehagen gegenüber der Entwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks teilen) liefert Bertram entlarvende Einsichten in die Praktiken der "Anstalten" und ihrer Angestellten. Zu Beginn stellt er mit Blick auf Hugh Carlton Greenes Credo der Eigenverantwortlichkeit und des Selbstbewusstseins gegenüber politischen und ökonomischen Einflussnahmen heraus: "Wer als Journalist gehalten ist, Kritik an anderen Institutionen zu üben, dem ist nicht zuzumuten, dass er die Augen vor Problemen und Fehlern im eigenen Haus verschließt." Tatsächlich aber ist der Mut zur Courage gerade bei Mitarbeitern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht ausgeprägter als bei anderen Angestellten wirtschaftlicher und staatlicher Unternehmen. Zwar finden Initiativen wie das hessische Bündnis "Rette dein Radio", das gegen das "Streamlining" der Informations- und Kulturwellen des Hessischen Rundfunks Front machte, Zuspruch hinter vorgehaltener Hand, doch sobald es darum geht, für die kritische Position gegen die Racket-Strukturen einzutreten, verkommt das öffentliche Terrain zur Ödnis. Wie in anderen Betrieben auch kommen die einzelnen Angestellten als Duckmäuser eher voran; der Mensch in der Revolte endet als Hartz-IV-Fall.

Daran scheitert schließlich auch die notwendige "Perestroika" des öffentlich-rechtlichen Systems. Bertram suggeriert, es könnte besser sein, wenn es nur einige "Hierarchen" in den Entscheidungsgremien gäbe, die sich auf die Anfänge und den öffentlich-rechtlichen Katechismus eines Hugh Carlton Greenes besännen. Realiter aber ist das System lediglich Teil des gesellschaftlichen Ganzen, das sich gegen Veränderungen abschottet. Längst ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk zum Beutestück konkurrierender Rackets geworden, und alle Hoffnung, es könnte noch einmal die Utopie Greenes gegen den Untertanengeist als auch gegen die politische und kommerzielle Usurpation wiedergewonnen werden, bleibt illusionär, da diesem Projekt die Agenten zur Durchsetzung fehlen.

In den Jahren nach dem Zusammenbruch des NS-Systems blieb der Raum, neue Formen der Vermittlung auszuprobieren, ehe sich die Rackets neu formierten und die restaurativen Kräfte sich durchsetzten. Intellektuelle wie Axel Eggebrecht, der die linke Tradition von der Weimarer in die Bonner Republik vergeblich zu transponieren sucht, scheiterte nicht allein an den neuen Medienindustrien der Nachkriegsgesellschaft, sondern auch an einer zynischen Pop-Linken, welche aus Gründen des eigenen Vorankommens in den Hierarchien der herrschenden Medienunternehmen hämisch den scheinbar überkommenen Humanismus der Faschismus-Überlebenden abkanzelte, um schließlich die letzten Überreste einer "autonomen" Meinung auf dem Markt zu verhökern und zu verramschen.

Das Manko des kritischen Reports des Fernsehmenschen Bertram ist seine Fernseh-Haftigkeit: Zwar werden alle Fakten des Niedergangs und Verfalls dargelegt, doch wird das Ganze in einem typischen "Panorama"-Duktus vorgetragen, in dem sich Beschreibung und Klassifikation unentwirrbar vermischen. Die Aufzählung der programmatischen Verfehlungen in den Bereichen Politik, Information, Kultur und Sport und die Vorführung der Zeugen der Anklagen sind auf Dauer ermüdend - ähnlich wie in Walter van Rossums Polemik gegen das TV-Spektakel "Sabine Christiansen" ("Meine Sonntage mit 'Sabine Christiansen'", 2004).

Da das Fernsehen sich fortwährend in der Produktion des Immergleichen ergeht, läuft auch die Kritik Gefahr, sich in der gleichen Sackgasse zu verrennen. Fragwürdig wird das Unternehmen, wenn der verspätete Kritiker, der über Jahrzehnte die Zustände in den öffentlich-rechtlichen Anstalten klaglos akzeptierte, nun als Pensionär ausgerechnet Angestellte aus den Agenturen des opportunistischen Zeitgeistes wie "Spiegel" und "Zeit" als Kronzeugen für die Thesen des moralischen Verfalls des öffentlich-rechtlichen Systems anführt. Gerade willfährige Mundstücke des Apparats wie Iris Radisch, die als Alida Gundlach des Feuilletons durch die Medienindustrie turnt, führt Bertram an und echauffiert sich darüber, dass etwa das "literarische Renommier-Magazin" "Bücher, Bücher" des Hessischen Rundfunks durch das frivole Magazin "Lilos Leselust" abgelöst wurde. Bezeichnenderweise überschreibt er das betreffende Kapitel mit "Dichter und Dildos". Darin spiegelt sich Bertrams Naivität gegenüber den Praktiken des Apparats wider. Keinen Gedanken verwendet er darauf, dass die Behandlung der Kultur im Fernsehen seit je von Fragwürdigkeiten begleitet ist. Schon die "fernsehgerechte" Aufbereitung der Literatur in Dieter Zilligens "Bücherjournal" in den siebziger Jahren barg den Keim des Anti-Literarischen und der Feindschaft gegenüber dem nicht-abbildbaren Prozess in sich. Naiv preist Bertram die "große TV-Erzählung" der fünfziger Jahre, die ein halbes Jahrhundert später als Tele-Novela fortgeführt wird. Von Beginn an bereitete der öffentlich-rechtliche Rundfunk den Triumph jener Flaschengeister vor, die nun lärmend durch die Landschaften toben. Leider hat sich seit Heinrich Bölls Satire "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen" nichts Besseres entwickelt: Die späten Nachgeburten der Bur-Malottkes wüten in den verwahrlosten Territorien, und überall herrscht die "technische Intelligenz der Funkleute", während der Geist in ein landloses Exil wanderte. So geht es zu in den Anstalten.


Titelbild

Jürgen Bertram: Mattscheibe. Das Ende der Fernsehkultur.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
240 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-10: 3596163935

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