Hypertext und Schriftkultur

Philipp Lösers Studie zur Mediensimulation in postmoderner Literatur

Von Christian FilkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Filk

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter dem Topos des "virtuellen Medienwechsels" diskutiert der Göttinger Literaturwissenschaftler Philipp Löser literarische Schreibweisen, die Charakteristika anderer Medien konzeptionell adaptieren. Im Zentrum stehen mediale Spezifika, die sich nicht der Schrift als solcher zuschreiben, jedoch im literarischen Text generieren lassen. Jenes Prozedere der "Verdopplung" (Paul Zumthor) begreift Löser als "Simulation". Ausgehend von einem konventionellen Verständnis von 'Medien' als Technologien, "die zur menschlichen Kommunikation und Informationsvermittlung dienen", konstatiert der Verfasser, dass Metaphern ? ähnlich wie Medien ? Wirklichkeitsausschnitte präformieren und somit Komplexitätsniveaus reduzieren und heuristische Wegmarken offerieren können.

Angesichts des Umstands, dass sich eine Auseinandersetzung der Schrift mit anderen Medienformen noch nicht etabliert hat, bietet sich, so der Tenor, das Oeuvre Botho Strauß' als Untersuchungsgegenstand an: sein Prosawerk, das zu recht politisch-ideologisch als problematisch gilt, impliziert wesentliche Techniken der Mediensimulation. Doch der 'postmoderne' Status Strauß', für die Anlage Lösers Studie konstitutiv, bleibt von vornherein fragwürdig. Die Arbeit geht von der "Ausgangshypothese" aus: "dass dieses medienpolitische Manövrieren der Mediensimulationen vornehmlich dazu dient, die konfliktträchtige Lage der literarischen Produktion zwischen Schrift und Schreiben nach einem Pol hin aufzulösen. Entweder werden die totalisierenden Fiktionen der Gutenberg-Galaxis privilegiert, oder die Differentialität von Zeichensystemen [...] kommt als einzig 'gültige' Ordnung zum Tragen".

Vor dem Hintergrund, dass das kulturelle Gedächtnis partiell die Literatur als wichtigen Wahrnehmungsfaktor zugunsten des Films suspendiert, analysiert Löser filmische Simulationen bei Strauß. Der Einsatz des Films bei Strauß erweckt den Eindruck, als ob dieses Medium strategisch dazu diene, ein "bestimmtes Augenblicksmodell" zu lancieren ? der Film ist bekanntlich durch eine Suggestion des 'Gegenwärtigen' gekennzeichnet. Nach Löser ist bei Strauß eine mehrfache Typologie des filmischen Schreibens feststellbar, vor allem nehmen sich "Unmittelbarkeit", "Metafiktion" und "Montage" als paradigmatisch aus. Sie lassen sich zudem literaturhistorisch mit der deutschen Gegenwartsliteratur, internationalen Postmoderne und klassischen Moderne in Diskurs setzen. Generell ist 'postmoderne' Literatur, laut Verfasser, bei Filmbildern dem Prä der Schrift verpflichtet, wenngleich die Metapher die Lesbarkeit von 'Welt' desillusioniert.

Im Kontext seiner Analyse der Schrift als Medium befasst sich Löser mit materiellen, anthropologischen sowie texttheoretischen Gesichtspunkten von Linearität, mitunter mit ihren historischen Gegenentwürfen. Ein (post-) strukturalistisches Textkonzept, das die tradierte Position des Subjekts dekonstruiert, dafür aber intra-/hypertextuelle Referenzen favorisiert, so die Einlassung, verzichtet im Prinzip darauf, Sinnkohärenzen zu präsentieren. "In den Texten von Strauß erscheint dadurch die Moderne nicht als Phänomen sui generis, sondern sie wird unter den Vorzeichen einer Verlusterfahrung immer negativ auf dieses alte Paradigma bezogen".

Die Gegenwartsautoren, die Löser sodann unter der Leitmarge der Oralität fokussiert, sind unter die Rubra "Intertextualität" oder "Selbstreflexivität" zu subsumieren. Strauß' Konturierung von Mündlichkeit soll illustrieren, in welch' großem Ausmaß Sprache und Denken mit "Gemeinplätzen" überkonnotiert sind, und so eine Gesamtsicht auf hochkomplexe Wahrnehmungen unmöglich gemacht wird. Angesichts dessen verkündet nach Löser die Prosa Strauß': "Wenn sich die Gesellschaft mit Sinndefiziten, Kommunikationsschwierigkeiten und dem Verlust an ideellem Zusammenhalt belastet sieht, bleibt zuletzt nur noch die (nurmehr fernvermittelte) Stimme als Medium, das in solchen Szenarien der Abwesenheit dank seiner Unmittelbarkeit Sinn und Zusammengehörigkeit stiften kann".

Als letztes Exempel literarischer Mediensimulation eruiert Löser Hypertext unter dem Gesichtspunkt der "Differenzialität": Er bezweifelt, dass die Malaise des (post-)modernen Menschen, der zwischen der Vertrautheit hergebrachter Werte, Beliebigkeit von Erfahrung und Differentialität von Zeichensystemen hin und her vagabundiert, durch eine Zuflucht zum "Pol des Differentiellen", der mit dem Nimbus der Computertechnologie einhergehe, aufgehoben werden könne. Vielmehr ist Vorsicht geboten, wenn man glaubt, Hypertext könne die mediale Basis der Schriftkulturen redefinieren. Während literarische Texte im allgemeinen spezifische Strategien der Hypertextsimulation präferieren, geht es bei Strauß um einen "Verstehensprozeß, der sich dem Umgang mit der Komplexität intertextueller Verweisungen nicht mehr verschließen darf".

In seiner abschließenden Reflexion auf die Technik der Simulation weist Löser darauf hin, dass nicht nur in der Schrift verschiedene Medien simuliert werden, sondern auch andere Medien wiederum Schrift simulieren. Und es seien gerade solche medialen Konstrukte, die historische und kulturelle Normierungen der Gutenberg-Galaxis in Frage stellen. Mithin sei nicht zu vergessen: die Pragmatik des Computers verdeutliche, dass sich ein jeglicher Umgang mit diesen neuen Technologien letztlich von den Erwartungen und Anforderungen der Menschen leiten lässt.

Von der skizzierten Problemexposition her gesehen rangiert Lösers Studie zweifelsohne in der vorderen Reihe kurrenter literaturwissenschaftlicher Fragestellungen mit expliziter Medienreferenz. Als instruktiv nimmt sich die Entscheidung aus, denkbare Konzeptualisierungen derjenigen Medienrelationen und -performanzen, mit denen die 'klassische' Schrift konfrontiert ist, zum Ausgangspunkt der Arbeit zu machen. Erst unter jener Prämisse setzt sich der Verfasser formal in den Stand, seine (Arbeits-)These zu elaborieren, der zufolge singuläre Medien auf äußerst unterschiedliche Weise funktional in literarische Texte implementiert werden können, je nach dem, wie ein Autor sich zur Problematik der (Post-)Moderne stellt.

Als prekär stellt sich hingegen heraus, wie Botho Strauß zum Referenzautor der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ? ausgerechnet unter dem Signum der 'Postmoderne' ? avanciert: gerade hier wirft Lösers Flottieren zwischen 'Nachmoderne', 'Alogozentrismus', 'Dekonstruktion' etc. Fragen auf. An diesem Umstand vermögen auch seine akribischen Textinterpretationen zum Manövrieren des Autors zwischen Schrift und Schreiben nichts ändern. Nicht zuletzt scheint dem Verfasser auch sein Exempel Strauß nicht zu genügen, da er sich bemüßigt sieht, seine Studie durch Medientheorie- sowie Textanalysen zu Thomas Bernhard, Italo Calvino, Rainald Goetz und Georges Perec u. a. zu komplementieren ? eine mitunter recht bizarre literarische Kanonisierung der 'Postmoderne'!

Davon unbeschadet zeichnen sich einige medientheoretische Überlegungen Lösers als Weg weisend ab, die wohl auch über die eingeschränkte Reichweite seiner exemplarischen Untersuchungen hinausweisen. Dies tangiert zum einen die Frage, unter welchen Voraussetzungen virtuelle Simulationen instruktiv sind und zum anderen, welche Attribute man ? unabhängig von Imagination und Metaphorisierung in literarischen Texten ? als diskriminierend für bestimmte Medien voraussetzen kann. Völlig zu Recht lehnt Löser lediglich die materiell begründete Unterscheidung ab. Vielmehr wird erst unter Berücksichtigung soziokultureller Kontexte deutlich, was an einem Medium spezifisch ist. ? An diese Erkenntnisse lässt sich anschließen.

Titelbild

Philipp Löser: Mediensimulation als Schreibstrategie. Film, Mündlichkeit und Hypertext in postmoderner Literatur.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1999.
282 Seiten, 47,00 EUR.
ISBN-10: 3525205813

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