Zurück zu den Wurzeln

Bausteine zu einer Biografie Wilhelm Scherers und zur Geschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert

Von Horst SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Horst Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die personal- und wissenschaftsgeschichtlich packende, den Zeitraum von 1853 bis 1886 umspannende Edition von Briefwechseln und Dokumenten des als "Begründer" der neueren deutschen Literaturgeschichte geltenden Germanisten Wilhelm Scherer (1841-1886) füllt eine Lücke in der Fach-Geschichtsschreibung der Germanistik. Sie wurde nach jahrelangen Recherchen für 2005 von den ausgewiesenen Scherer-Spezialisten Mirko Nottscheid und Hans-Harald Müller unter Mithilfe von Myriam Richter als fünfter Band der von Christoph König und Ulrich Raulff edierten Reihe "Marbacher Wissenschaftsgeschichte", einer Schriftenreihe der Arbeitsstelle für die Erforschung der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv Marbach, herausgegeben.

Die vorbildliche Edition, die als "Zugabe" im Anhang unter anderem ein "Verzeichnis von Beständen zu Wilhelm Scherer außerhalb seines Nachlasses" sowie ein ausgesprochen informatives und praktisches "Kommentiertes Personenregister" enthält, versammelt insgesamt 141 Briefe von bzw. an Wilhelm Scherer. Die von fünf bisher unpublizierten Dokumenten, darunter autobiografische Aufzeichnungen Scherers, ergänzten 18 Briefwechsel lassen sich in familiäre, gesellschaftliche und fachwissenschaftliche Briefwechsel unterteilen und sind größtenteils bislang unpubliziert gewesen.

Den Briefwechseln vorangestellt ist neben einer Einleitung, in der als Ziele der Briefedition zum Einen "mit neuen Quellen die wichtigsten Bereiche von Scherers Leben und Werk exemplarisch abzudecken" und zum Anderen "möglichst viele Arbeitsbereiche Scherers zumindest exemplarisch zu repräsentieren" aufgeführt werden, ein umfangreicher editorischer Bericht der Herausgeber. Jeder der 18 Briefwechsel wird mit einer kurzen Charakteristik des jeweiligen Briefpartners Scherers eingeleitet.

Zusammengenommen ergeben die Schriftwechsel Scherers, über den bislang zwar mehrere gewichtige wissenschaftshistorische und methodologische Monografien vorliegen, jedoch noch keine ausführliche Biografie, die gleichermaßen Leben, Werk und Wirkung berücksichtigt, einen Abriss seiner Lebensgeschichte und erlauben darüber hinaus Einblicke in Scherers Gelehrtenlaufbahn und in den Wissenschaftsbetrieb in Österreich und Deutschland während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Wilhelm Scherer wurde am 26. April 1841 im niederösterreichischen Ort Schönborn als Sohn eines Franken und einer Österreicherin geboren. Als Scherer vier Jahre alt war, starb sein Vater, er bekam einen Stiefvater und wuchs in wohlhabenden Verhältnissen in Wien auf. Seit 1854 besuchte Scherer dort ein Gymnasium, mit bereits 17 Jahren wechselte er nach seiner Matura (1858) an die Universität Wien, um dort Klassische Philologie und Indogermanistik zu studieren. 1860 wechselte Scherer von Wien nach Berlin, wo er unter anderem Vorlesungen bei Jakob Grimm, Moriz Haupt, Franz Bopp und seinem Mentor Karl Müllenhoff hörte. 1862 kehrte Scherer nach Wien zurück, wo er umgehend promovierte und sich 1864 für Deutsche Philologie habilitierte. 1868 wurde er ordentlicher Professor in Wien, 1872 folgte Scherer, der auch als österreichischer Professor aus seiner Sympathie für Preußen keinen Hehl machte, einem Ruf an die neu gegründete Universität Straßburg im damals dem Deutschen Reich eingegliederten Elsass. 1877 wechselte Scherer schließlich an die Berliner Universität auf den eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl für "Neuere deutsche Literaturgeschichte", wo er bis zu seinem frühen Tod durch einen Schlaganfall am 6. August 1886 lehrte.

Wilhelm Scherer, der mit 38 Jahren eine Straßburger Sängerin heiratete, die ihn um 53 Jahre überleben sollte, war ein ungemein produktiver und vielseitiger Germanist. Er lehrte und forschte zum gesamten Spektrum der damaligen Germanistik, wobei er sowohl sprachwissenschaftlich als auch literaturwissenschaftlich tätig war. Als einer der ersten Vertreter seiner Zunft widmete sich Scherer auch philologisch der neueren Literatur und suchte als Publizist auch die Öffentlichkeit jenseits akademischer Zirkel. Rund die Hälfte der über 400 zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Publikationen von ihm erschienen in Tageszeitungen, Magazinen und populärwissenschaftlichen Organen. Scherers größter publizistischer Erfolg war seine positivistisch orientierte, nach dem "Ererbten, Erlebten und Erlernten" suchende "Geschichte der deutschen Literatur" (1880-1883), von der bis 1949 stolze 26 Auflagen erschienen. Nach 1871 wandelte sich Scherer vom Befürworter eines preußisch-deutschen Nationalismus mehr und mehr zum Anhänger der aufklärerischen Positionen des Liberalismus. In seinen Schriften (und deutlicher noch in seinen Briefen) bezog er mehrfach deutlich gegen den deutschen Chauvinismus Stellung. Im so genannten "Berliner Antisemitismusstreit" fand Scherer 1880 als einziger deutscher Germanistik-Ordinarius deutliche Worte gegen den Antisemitismus. Durch ihn werde nämlich, so Scherer damals in einem Zeitungsartikel, "unsere nationale Würde unheilbar compromittiert."

Wilhelm Scherer, dessen Schüler nach seinem Tod mehr als 25 Professuren in Deutschland und Österreich bekleideten und die einflussreiche, wissenschaftshistorisch noch unzureichend erforschte "Scherer-Schule" bildeten, hätte es verdient, wenn sich die germanistische Zunft wieder stärker ihres Ahnherren erinnerte. Publikationen wie die neue Edition der Scherer-Briefwechsel tragen dazu bei. Vor allem sein breites wissenschaftliches Spektrum könnte den heutigen Germanisten Ansporn und Vorbild sein.


Titelbild

Wilhelm Scherer: Briefe und Dokumente aus den Jahren 1853 bis 1886.
Herausgegeben und kommentiert von Mirko Nottscheid und Hans-Harald Müller.
Wallstein Verlag, Göttingen 2005.
448 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3892448264

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