Vom Milieu zum Mythos

Christel Erika Meiers Studie zum Selbstmordmotiv im Werk Gerhart Hauptmanns

Von Alexander Martin PflegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Martin Pfleger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Helene Krause in Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" ersticht sich; Fuhrmann Henschel endigt das gleichnamige Drama sowie das Drama seines Lebens durch Erhängen; Frau John in den "Ratten" springt aus dem Fenster; die Künstler Arnold Kramer und Gabriel Schilling gehen ins Wasser; Prospero, in dessen Person die Eingeborenen einer mythischen Pazifikinsel die Reinkarnation des vorzeitlichen Gottkönigs Indipohdi verehren, wählt eine gegensätzliche Strategie und sucht im Krater eines Vulkans den Übergang ins Nichts; Sir Archie wiederum, der zum Raubmörder gewordene schottische Söldnerführer aus der "Winterballade", beschließt seine irdische Existenz durch bloße Verneinung des Lebenswillens, und Iphigenie stürzt sich in die Phädriadenschlucht - das Werk Hauptmanns hält wahrlich ein überreiches Angebot an Verfahrensweisen bereit, seinem Leben durch eigene Hand ein Ende zu setzen.

Gerade Hauptmanns besondere Bevorzugung dieser Todesart rief schon in den ersten Jahren seines Schriftstellerdaseins teilweise überaus heftig anmutende Kritik auf den Plan, die bis heute nicht verstummt ist. Hauptmann, so hieß und heißt es, habe die zahlreichen Selbstmorde in seinen Werken, wenn nicht in bewusst effekthascherischer Absicht, so doch aufgrund mangelnder Begabung zur Gestaltung aus sich selbst heraus tragische Dimensionen tangierender Konflikte quasi als Standardnotbehelfe gehandhabt, in den meisten Fällen sei der Suizid kaum psychologisch glaubwürdig motiviert und passe auch nicht zum dumpfen Vor-Sich-Hinbrüten, das viele Gestalten Hauptmanns charakterisiere.

Die bisherige Forschung hat sich bei der Frage nach der hinlänglichen Begründung von Selbsttötungsakten im Œuvre Gerhart Hauptmanns vorrangig um die Untersuchung ihrer Motivation in einzelnen Werken verdient gemacht. Christel Erika Meier unternimmt in ihrer Dissertationsschrift "Das Motiv des Selbstmords im Werk Gerhart Hauptmanns" erstmals den Versuch, das Suizidmotiv explizit hinsichtlich des Hauptmann'schen Gesamtwerks zu analysieren. Die Autorin gibt nicht allein einen umfassenden Überblick über "tatsächlich" erfolgte Selbstmorde im dramatischen, epischen und lyrischen Schaffen Gerhart Hauptmanns, sie bezieht zudem Reflexionen solcher seiner Figuren ein, die sich letzten Endes nicht für den Freitod entscheiden, ihn aber gleichwohl in Erwägung ziehen. Zusätzlich speist sich ihr Buch aus Untersuchungsergebnissen noch weitgehend unveröffentlichten Brief- und Tagebuchmaterials Gerhart Hauptmanns und seiner Freunde und Bekannten sowie aus Auswertungen von Hauptmanns Anstreichungen in seinen Büchern von Autoren, die sich dem Thema "Selbstmord" - sei's von philosophischer (Seneca, Augustinus, David Hume), medizinischer (Freud, Jung) oder literarischer (Shakespeare, Ibsen) Seite her - anzunähern suchten.

Ob Hauptmann selbst suizidäre Neigungen in bestimmten Lebenssituationen empfunden hat, ist heute kaum mehr ermittelbar und dürfte auch weitgehend zu bezweifeln sein. Dass für ihn als Autor der Selbstmord eine durchaus positive Konnotation besaß, steht hingegen außer Frage. In seiner Wertung erscheint er mehr als Ausdruck heroischer Entschlusskraft - dieser Begriff mag bezüglich der naturalistischen Frühdramen zu gewichtig klingen, gewinnt aber im Kontext späterer mythologischer und historischer Dichtungen Hauptmanns an Berechtigung und erweist sich rückwirkend auch für das Werk des Gesellschaftskritikers Hauptmann als treffende Kennzeichnung - denn als Zeichen persönlicher Schwäche. Im Spätwerk nimmt der Selbstmord schließlich immer stärker Züge des kultischen Selbstopfers an. Die Determination durch das Milieu, der sich Hauptmann ohnehin niemals mit Leib und Seele verschrieben hatte, hat hier keine Bedeutung mehr, alleiniges Thema ist die Behauptung des Menschen im Kampf mythischer Kräfte.

Dass allerdings das gehäufte Auftreten von Selbstmorden in literarischen, vor allem natürlich in dramatischen Werken als dichterische Schwäche interpretiert werden kann - und manchmal auch zu Recht wird! -, ist ein Faktum, dessen sich Hauptmann vollkommen bewusst war. Für ihn, der einmal äußerte, ein Drama, das nicht bis zur letzten Szene Exposition sei, sei im Prinzip kein Drama - ein Anspruch, dem die wenigsten dramatischen Dichtungen der Weltliteratur, auch die eigenen kaum, voll zu entsprechen vermöchten -, stellte sich nur allzu oft die Frage, ob der von ihm gewählte Fortgang der Handlung eines Stückes nach den Anfangsakten nicht eine Vergewaltigung der angedeuteten Möglichkeiten alternativer Handlungsentwicklungen bedeute. Als Kuriosum am Rande ist zu vermerken, dass ihn an der von ihm inspirierten Figur des Mynheer Peeperkorn in Thomas Manns "Zauberberg" unter anderem auch ihr Ende als Selbstmörder empörte.

Mit Widersprüchen unterschiedlichster Art wird konfrontiert, wer sich in das Werk Gerhart Hauptmanns vertieft. Die vorliegende Studie vermag Licht an manche dunkle Stelle zu tragen. Sie ist sowohl für den Spezialisten als auch für den Einsteiger in Sachen Hauptmann-Forschung zu empfehlen, denn obgleich die Autorin ihr Thema streng abgegrenzt hat, versteht sie es zudem, abgerundete Kommentierungen nicht nur benachbarter, sondern auch entlegener Motivgeflechte und Themenkomplexe des Hauptmann'schen Gesamtwerks souverän in ihre Erörterungen zu integrieren, wenn es dem Verständnis der Sache dienlich ist. Ihr Buch lässt sich somit auch über die konkrete Fragestellung hinaus als eine Art Kompass durch die schier uferlose Produktion Gerhart Hauptmanns verwenden. Dass sie an einigen Stellen sehr scharf mit den Fahrlässigkeiten früherer Forschungsansätze ins Gericht geht, verleiht ihren Ausführungen noch zusätzlichen Biss.


Titelbild

Christel E. Meier: Das Motiv des Selbstmords im Werk Gerhart Hauptmanns.
Ergon Verlag, Würzburg 2005.
621 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-10: 3899134257

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