Lyrik für alle!

Remo Hug hat die erste umfassende Studie über Erich Kästners Lyrik geschrieben

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Erich Kästners 100. Geburtstag im Jahr 1999 ist nicht nur eine neue Werkausgabe, es sind auch mehrere Biografien und wissenschaftliche Arbeiten erschienen. Überraschender war die Flut von Medienberichten. Die Journalisten feierten Kästner als einen der Ihren, zu Recht, hatte er doch als Journalist begonnen und nach dem Krieg als Feuilletonchef der "Neuen Zeitung" wichtige Weichen für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft gestellt. Kästner gilt, trotz seiner inneren Emigration in der Nazizeit, als Vorzeige-Journalist, vielleicht noch mehr als der rasende Reporter Egon Erwin Kisch. Im Unterschied zu Kisch legte sich Kästner nie parteipolitisch oder ideologisch fest, von seinen pazifistischen und demokratischen Grundüberzeugungen einmal abgesehen.

Selbst Kästners Gedichte wurden zum großen Teil in Zeitungen und Zeitschriften vorab gedruckt, viele sogar nur dort - wenn sie vor dem strengen Auge des Autors bei der späteren Auswahl keine Gnade mehr fanden. Wen wundert es, dass jemand, der selbst als Journalist gearbeitet hat, nun eine Arbeit über Kästners Lyrik vorlegt. Remo Hug geht eingangs mit der Literaturwissenschaft hart ins Gericht, er zitiert entsprechende Untersuchungen und stellt fest, dass sich die Wissenschaft um diesen wichtigen Autor des 20. Jahrhunderts kaum gekümmert und die Komplexität seiner Lyrik bisher nicht erkannt hat. Nach Anmerkungen zu Kästners Leben und Arbeiten im allgemeinen sowie die Gattung Gebrauchslyrik im besonderen besichtigt Hug dann das lyrische Werk.

Abgehandelt werden die Themen und der Stil der Gedichte, Hug geht teilweise summarisch vor, teilweise geht er ins Detail. Beeindruckend ist seine Kenntnis nicht nur der Lyrik, sondern auch ihrer Rezeption. Mindestens 700 Gedichte habe Kästner geschrieben, davon seien aber nur 431 Gedichte in Buchausgaben aufgenommen worden. In Tabellen wird erfasst, wie viele der Texte wann produziert und in welchen Zeitungen und Zeitschriften gedruckt wurden. Außerdem nimmt Hug Bezug auf interessante, unbekannte Rezensionen der vier Gedichtbände, die Kästner bis 1932 veröffentlichte und die von vielen als wichtigster Teil seines lyrischen Werks angesehen werden. Ebenso aufschlussreich sind die auf Kästners eigene Aussagen und Zeitzeugnisse bezogenen Erläuterungen zur Poetik. Das Konzept der Gebrauchslyrik war, so lässt sich erkennen, kein rückwärtsgewandtes, sondern ein avantgardistisches; Kästner votierte nicht gegen die Lyrik von Autoren wie Rilke, die er sehr schätzte, sondern gegen epigonale Dichtungen seiner Zeit, die heute vergessen sind. Hug zeigt, dass sich die berühmte "Prosaische Zwischenbemerkung" aus "Lärm im Spiegel" nur dann angemessen verstehen lässt, wenn man solche Hintergründe kennt.

Methodisch beschreitet Hug einen Mittelweg. Er führt in Leben und Lyrik Kästners ein, bietet aber auch viele bisher unbekannte Details. Er charakterisiert Themen und Schreibweise eher summarisch, ohne sich an einzelnen Fragen festzubeißen. Er vermag - wie könnte es bei einem gelernten Journalisten anders sein - unterhaltsam zu schreiben und statt trockener Wissenschaftsprosa Lesegenuss zu bieten. So entsteht das perspektivenreiche Gesamtbild eines lyrischen Werks, das mit Begriffen wie Rollenlyrik oder "indirekter Lyrik" (Kästner) nur unzureichend erfasst ist. Der Lyriker Kästner artikuliert die Sorgen und Nöte von Gruppen und Individuen, ohne sich auf bestimmte Perspektiven festzulegen - das prägt den Gebrauchswert der Gedichte. Kästner arbeitet mit einer außerordentlichen stilistischen Variationsbreite, die sich beim ersten Lesen der eingängigen Verse so nicht erschließt. Individuelles Fehlverhalten und gesellschaftliche Fehlentwicklungen verfallen der Satire.

Hug kommt durch seine vorsichtig-abwägende Herangehensweise zu Einschätzungen über den Menschen hinter dem Lyriker, die Leser ohne Hang zu Skandal und Spektakel begrüßen werden. Kästners unglückliche Liebe zu Ilse Julius hat seine späteren Bindungsängste wohl stärker geprägt als die komplizierte Beziehung zur Mutter, die er mit sehr persönlichen Briefen und dem "Wäscheband" auf Distanz hielt. Sie war von ihm abhängig und er wollte sie nicht enttäuschen. Sein persönliches Karrierekonzept ging auf, viele Leser wurden Kunden seiner "kleinen Versfabrik". Hug betont zu Recht, dass in Wertschätzung und Popularität, gemessen etwa an der Aufnahme in Anthologien, Kästner gleichberechtigt neben Autoren wie Benn oder Rilke steht.

Kritisch anzumerken sind Kleinigkeiten. Die Forschungsliteratur ist nur in Auswahl berücksichtigt worden, wenn auch alle zentralen Monografien dabei sind. Dennoch schlägt Hug einige bereits geschlagene Schlachten noch einmal, weil er bestimmte An- und Aufsätze nicht kennt. Dies zeigt auch, dass Kästner in der Literaturwissenschaft nicht mehr ganz so unter Wert gehandelt wird, wie es in den 1990er Jahren noch der Fall war. Die Stilanalyse der Gedichte bleibt eher an der Oberfläche, schon die Begrifflichkeit ist manchmal etwas unklar, etwa die Verwendung von umarmendem oder identischem Reim; Hug hätte sich auf ein Standardwerk der Lyrikanalyse beziehen und die Begriffe durch Nachweise verankern können.

Die wenigen kritischen Anmerkungen sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hug eine Arbeit geschrieben hat, die nicht nur von Gebrauchslyrik handelt, sondern mit ihrer fast enzyklopädischen Vermessung von Kästners lyrischem Werk selbst zum Gebrauch einlädt. Bleibt zu hoffen, dass Journalisten wie Literaturwissenschaftler - eben alle, die sich für Kästner interessieren - der Einladung folgen und der Gebrauchslyrik weitere interessante Facetten abgewinnen werden.


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Remo Hug: Gedichte zum Gebrauch. Die Lyrik Erich Kästners: Besichtigung, Beschreibung, Bewertung.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2006.
224 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-10: 3826033116

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