So surreal traurig

In seinem zweiten Roman "Die Blaue" erzählt Nicolas Michel eine parabelartige Geschichte über das Fremd- und Anderssein

Von Carola EbelingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carola Ebeling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alice ist eine Fremde, sie kommt aus einem fernen Land." So jedenfalls erscheint es allen, die sie kennen. Selbst denen, die ihr nahe stehen, nahe stehen wollten oder sollten - wie soll man es sagen? Alice ist anders, sie wurde mit einer seltsamen Anomalie geboren: Ihre Haut ist papierdünn, die Blutgefäße darunter schimmern hindurch - und deshalb ist sie blau. Selbst die Eltern können das Gefühl der Fremdheit, der Abwehr letztlich nicht überwinden.

Nicolas Michel erzählt in seinem zweiten Roman "Die Blaue" fast eine Art Parabel über das Anderssein, über das "Nicht-dazu-Gehören". Es ist lange Zeit weniger Alice' Geschichte, sondern die der Eltern; die Geschichte einer Verstörung, die im Laufe der Zeit nicht geringer wird, sondern alles durchdringt. Und zersetzt. Und zwar vom allerersten Moment an: "Der Arzt kommt herein, ein weißes Päckchen auf dem Arm. Sie begreifen nicht gleich. Dann weint sie, es ist wie ein Miauen. Marie scheut vor ihrem Kind zurück. Nur der Kopf schaut heraus, hellblau, leicht rosa." Nie wird Marie diese Abwehr überwinden können. Ihr Mann Pierrot ist der Tochter näher. Er ist es, der mit ihr zu den Ärzten geht, sie später in den Kindergarten bringt, sich den Blicken aussetzt: den aufmerkenden, mal entsetzten, mal neugierig-zudringlichen, mal ausweichenden Blicken. Er ist es, der das Unaussprechliche in eine Liebkosung wendet, indem er seine kleine Tochter "Meine Kornblume, meine Blaubeere." ruft. Gegen die Verlegenheit der Freunde und Verwandten kommt er aber nicht an.

Michel psychologisiert nicht. Nur selten und dann eher flüchtig versucht er, ins Innere seiner Figuren vorzudringen. Die Dramen, die sich dort abspielen, vermittelt er durch die Beschreibung dessen, was mit den Figuren geschieht. Er erzählt ihre Handlungen, schildert die Ereignisse. So den Besuch eines Journalisten: Pierrot ist dagegen, Marie stimmt zu. Sie redet stundenlang. Offenbar in einem diffusen Wunsch, ihr Herz dadurch zu erleichtern. Oder die Isolation, in die beide sich immer mehr begeben, zu durchbrechen. Es endet schlecht, der Artikel ist sensationsheischend aufgemacht, die Identität der Familie wird öffentlich, der Druck von außen größer.

Die Liebe von Marie und Pierrot hält all dem nicht stand. Auch weil beide so unterschiedlich auf die Situation reagieren. Als Marie mit Hilfe künstlicher Befruchtung ihr Heil in einem zweiten - "normalen" - Kind sucht und auch tatsächlich schwanger wird, ist der entscheidende Bruch zwischen dem Paar vollzogen. Und dabei erfährt Pierrot noch nicht einmal, dass seine Frau sich das Sperma eines anderen injizieren ließ - um alle Risiken auszuschließen.

Alice ist der Auslöser all dieser Geschehnisse und doch nur Objekt, tatenlos, stumm. Langsam verschiebt Michel die Perspektive, hin zu ihren Wahrnehmungen, um dann abrupt seinen Focus ganz auf sie zu richten. Je älter Alice wird, desto deutlicher spürt sie ihr Anderssein, realisiert sie es als nicht abzustreifende Seltsamkeit, ja als Makel. Und das zu schildern, gelingt dem Autor eindrücklich. Doch treten Pierrot und Marie nun fast ganz ab. Das ist zum Teil konsequent, denn tatsächlich lassen sie Alice allein: Bald lebt sie, gerade 15 Jahre alt, auf sich allein gestellt in der Wohnung. Die Mutter ist in einem anderen Leben mit neuer Familie, der Vater schaut nur noch selten vorbei; er ist immerhin ein Gequälter, einer, der sich aufgegeben hat. Das Verschwinden der Figuren macht die Unbarmherzigkeit des Verlassenseins, der Einsamkeit Alice' schmerzhaft klar. Und doch bleibt es auch unbefriedigend, dass Pierrot sich nach der Trennung von Marie einfach nur noch als schwache, kapitulierende Figur darstellt. Das bleibt zu ungenau: Er hatte einen Gegenwillen, dessen Verflüchtigung nicht nachvollziehbar ist. Selbst im Rahmen der geschilderten Zurückhaltung des Autors, die hier erzählerisch nicht aufgeht.

Vielleicht wünscht man es sich auch anders, weil das Leben von Alice so unwirklich, so surreal traurig ist. Sie kommt zu sich und damit zu ihrer Abgetrenntheit von den anderen: Sie treibt durch die Stadt - von der Wohnung ins Schwimmbad, Ort größtmöglicher Selbstvergessenheit, in einen Malkurs und wieder in die Wohnung voller Leinwände und Farben. Eine Freundin kommt sehr nahe und verlässt sie wieder. Mit allem aufzuhören ist eine große Versuchung, der sie zweimal nachgeben will.

Atmosphärisch dicht erzählt Michel und ganz konzentriert auf Alice' Perspektive. Ihr Alleinsein ist bodenlos und verengt die Welt. Als Jules auftaucht, wird es aufgebrochen - und zum ersten Mal taucht die Ich-Form auf: "Die Mine gleitet über mich, folgt den Konturen, frei, wendig, schamlos, ich spüre ihr Streicheln kaum. Ich existiere." Jules malt sie, er fotografiert sie. Er begehrt sie - sie oder das Kunstobjekt? Alice wird es nicht mehr erfahren. Die Lesenden auch nicht. Vielleicht hätte Jules einer sein können, der sie nicht als Fremde in ein fernes Land geschickt hätte; einer, der ihr vielleicht tatsächlich hätte nahe kommen können. Vielleicht.


Titelbild

Nicolas Michel: Die Blaue. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Gaby Wurster.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006.
204 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3608936165

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