Zum Tee bei Herr und Knecht

Hans Magnus Enzensberger erzählt von einer Sängerin

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang steht ein Überfall, ein Raubversuch, den der Ich-Erzähler gerade eben noch verhindern kann. Statt sich zu bedanken, lädt das Opfer, Josefine K., den Erzähler zum Tee ein, besser: befiehlt ihn zu sich. So beginnt ein Dreivierteljahr, das durch wöchentliche Besuche bestimmt ist. Beinahe jeden Dienstag erscheint der Erzähler in Josefines verfallener, kaum beheizter Villa, um dort als wenig mehr denn als Stichwortgeber für die Monologe der gealterten Sängerin zu fungieren.

Josefine K., Sängerin - das bezeichnet eines der drei Probleme, die sich Hans Magnus Enzensberger in seiner Erzählung aufbürdet. Es hätte gar nicht der weiteren Anspielungen bedurft, die sich durch den Text ziehen, um den Bezug auf Kafkas "Josefine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse" überdeutlich zu machen. Das mag Enzensberger einst vier oder fünf auf Intertextualität fixierte germanistische Arbeiten einbringen. Doch schadet ein solcher Bezug dem Werk mehr als ihm eine zusätzliche Dimension zu verleihen. Wo Kafka seine durch das tierische Dasein als Maus verfremdete Sängerin in Kontakt mit und gleichzeitig gegen ihr Publikum handeln lässt, beschränkt sich Enzensberger auf die szenisch unergiebigere Rückschau einer Künstlerin, die seit Jahrzehnten von der Gesangsbühne abgetreten ist und jetzt nur noch auf beschränkter Ebene dem Besucher ihre Redekunst vorführt. Während Kafkas Text bis ins sprachliche Detail davon lebt, dass wir nie wissen, ob der Erzähler die Nicht-Kunst, das ordinäre Pfeifen Josefines durchschaut oder ob er einfach ein Ignorant ist, ordnet man Enzensbergers Ich schnell als sympathisch-mediokren Gast ein, der noch da, wo er gegen Josefine Recht hat, als der Unterlegene erscheint.

Dazu trägt zweitens die nicht eben überzeugende Genrewahl bei. Angeblich handelt es sich um Tagebuchnotizen von 1990 und 1991, die der Erzähler fünfzehn Jahre später wieder findet. Doch ist der Tagebuchcharakter kaum je konsequent durchgehalten, ist jeder Eintrag so auf die Treffen mit Josefine konzentriert, als gehe es stets schon um den Versuch, aus zeitlicher Distanz ein Geschehen zu rekonstruieren. So wirkt dieser Tagebuchschreiber seltsam abgeklärt, statisch auch, statt mehr oder minder neugierig und ratlos im Geschehen zu stehen, wie es eine offenere Form als Chance eröffnete.

So bleibt zu fragen, was überhaupt Enzensberger in dieser Erzählung gelang. Wenn auch von der Vielschichtigkeit Kafkas weit entfernt, so überzeugt doch der klare, prägnante Stil, wie man ihn aus Enzensbergers Essays kennt. Das betrifft insbesondere Josefines Reden über das moderne Leben; Beispiele eines Ressentiments, das der Autor hier durch ihre Lebenspraxis bewusst relativiert und mehr: eine dogmatische Überspitzung, die sich ihrer selbst bewusst ist und in großer Souveränität den Vorwurf der Widersprüchlichkeit in ein Kompliment umwandelt. Es ist, als habe sich Enzensberger, der zu absoluten Urteilen neigt, die er gerne wenige Jahre später durchs Gegenteil ersetzt, in Josefine auch ein von Selbstironie nicht freies Portrait geschaffen, ergänzt durch die grundsoliden Einwürfe des Besuchers, der in seiner beschränkten Vernunft es doch kaum je zur interessanten Äußerung bringt.

Der Kampffelder sind viele; der äußerlichste Bereich sind der Sozial- und Steuerstaat, den die verarmte Josefine hasst (sie lebt, wie sich zuletzt herausstellt, von der Rente ihrer Dienerin). Hierhin gehört die moderne Technik, und wie nieder die gegenwärtige Sportleidenschaft sei (aber Fußball guckt Josefine heimlich, im Bedientenzimmer, doch). Modernes Kunstgewerbe wird eher nebenbei abgetan, wie auch die aktuelle Politik, zu der Josefine nichts Substanzielleres einfällt als leider auch ihrem Autor, der seit längerem in der Pose des Provokateurs vorträgt, was ohnehin Konsens ist.

Spannender wird es, wenn die Besuche selbst zum Thema des Gesprächs werden: Wenn etwa Josefine überfallartig den Gast fragt, weshalb er denn eigentlich seine Zeit mit einer alten Frau verbringe. Auf solche Fragen kann man nur plump, falsch oder gar nicht antworten - und noch das Aufrichtigste muss wie eine Lüge klingen und tut es denn auch, zur Freude und zum Leid Josefines, die sich mit stoischer Haltung dann kaum je etwas anmerken lässt. Es herrscht fast eiserner Benimm in ihrem Haus, der paradox genug einhergeht mit dem uneingeschränkten Recht der Gastgeberin zur bodenlosen Frechheit. So gewinnt sie fast stets, zur Faszination des unterlegenen Besuchers, der sich freilich so als der Umworbene fühlen kann, als Stichwortgeber für eine Bühnenvorführung, die ihn als Publikum braucht. Gleich beim ersten Besuch erwähnt Josefine "diesen Berliner Philosophen, den mit dem Weltgeist" Sie kennt sich aus mit Hegels Dialektik von Herr und Knecht.

So ist es nicht einfach die Bewunderung des Erzählers für Josefines "Haltung", die ihn, wie er in einem überflüssigen nachgeschobenen Abschnitt aus dem Jahr 2005 behauptet, sein Tagebuch aufbewahren lässt. Es ist der Rückblick auf die Geschichte eines Kampfs, in dem, durch Alter und Geldbeutel bedingt, eine hier gar nicht einmal unangenehme Dummheit gewinnt. Hat sich der Kampf zwischen Künstlerin und Publikum - bei Kafka noch die Sache eines ganzen Volks - ins Private verschoben, mit dem verachteten Fernseher als Kommunikationsmedium, das die scheinbare Aristokratin Josefine im Zimmer ihrer Haushälterin doch gerne nutzt, so die Macht des Neuen noch einmal unterstreichend?

Das wäre eine lohnende Frage gewesen. Stattdessen greift Enzensberger - und dies ist sein drittes Problem - auf das Lieblingsthema der neuesten deutschen Literatur zurück: auf die Auseinandersetzung mit dem "Dritten Reich". Was tat Josefine nach 1933? Das mag ihr Besucher nicht fragen, obwohl er doch ohne große Mühe erfährt, dass sie mehrfach bei Goebbels eingeladen war, sie aber ihre Dienerin, die jüdischer Herkunft ist, gerettet hat. Josefine bekennt sich zum Opportunismus - und zum Egoismus. Die gewohnte Dienerin brauchte sie für ihre Karriere, deren Familie - die umkam - nicht. Besagte Fryda ist immer noch bei ihr, ist die Magd, die gleich anfangs hegelianisch als Herrin gesehen wurde. Die Dialektik ist hier immerhin anschaulich: Fryda hat das einzige beheizte Zimmer der Villa, sie besitzt den Fernseher und das Geld, von dem beide zehren - ein eigenes Leben aber hat sie nicht: Für den Besucher bleibt sie eine Dienstbotin, der man im Tausch gegen ein paar Flaschen Alkohol nützliche Informationen über die Herrin entlocken kann. Ein paar freundliche Worte im Rückblick von 2005 ändern nichts daran, dass diese Figur so konturenlos bleibt wie alles, was Enzensberger hier über den Faschismus schreibt. Die Vergangenheit erscheint ebenso blass wie die Handlungsgegenwart, die von den Umbrüchen der deutschen Vereinigung 1990/91, die im Tagebuch ab und an erwähnt werden, geprägt ist. Auch dieser Bezug bleibt der Handlung äußerlich und ermöglicht Enzensberger nur ein paar Bosheiten aus dem Mund Josefines, die aber auch nicht zu seinen besten gehören.

So ergeben Politik und Geschichte wenig mehr als ein zweifelhaftes Lob des Opportunismus, das nirgends relativiert ist, aber vielleicht einem Autor gut ansteht, der zu seinen besten Zeiten der allgemeinen Meinung eine Saison vorweg war, seit einiger Zeit nur noch mit ihr gleichauf, sie aber immer noch besser als andere zu formulieren vermag. Dass man heute den scheinbar nonkonformistischen Verstoß gegen den Popanz der political correctness aber auch nicht mehr braucht, deuten die ersten, negativen Zeitungskritiken an. Auch das ist eine Künstlerproblematik, ein nicht nur dramaturgisches Problem im Verhältnis von Sänger und Publikum, das radikal zu durchdenken der skrupulöse Kafka sich leisten konnte, das zu aktualisieren aber Enzensberger sich verständlicherweise weigert.


Titelbild

Hans Magnus Enzensberger: Josefine und ich. Eine Erzählung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
148 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3518418211

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