Tigersprung ins Vergangene
Francisco De Ambrosis Pinheiro Machado aktualisiert Walter Benjamins Geschichtskonzeption
Von Falko Schmieder
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Brasilianer Francisco De Ambrosis Pinheiro Machado eröffnet seine Dissertationsschrift zu Walter Benjamins Geschichtskonzeption mit einem Blick auf das kontroverse Erinnern des 500. Jahrestages der Ankunft der Europäer in Südamerika. Während die offiziellen Feierlichkeiten den Aspekt der Verwestlichung und Modernisierung Südamerikas heraushoben, wurde vor allem von der indigenen Bevölkerung das Bild einer Unterdrückungsgeschichte gezeichnet, die bis in die Gegenwart reicht.
Dieser Rekurs auf ein zeitlich so weit zurückliegendes Ereignis illustriert eindrucksvoll die Unabgeschlossenheit und anhaltende Macht der Vergangenheit. Darüber hinaus zeigt er auch, dass das Bild der Geschichte ein Politikum ist. In die Diskussionen über die Vergangenheit fließen immer die Probleme der jeweiligen Gegenwart ein. Wie an Machados Beispiel deutlich wird, kann es ein neutrales Erinnern nicht geben. Die Fundierung des Gedenkens in einer konfliktgeladenen Gesellschaft hat nicht selten gewaltförmige Konsequenzen. Während die offiziellen Feierlichkeiten stattfanden, wurde ein Demonstrationszug indigener Gruppen durch die Polizei und Armee mit Gewalt angehalten.
Diesem Beispiel aus der jüngsten Geschichte Brasiliens ließen sich unzählige aus anderen Ländern zur Seite stellen. Machado hat Recht, wenn er vor diesem Hintergrund das Theorem vom "Ende der Geschichte" blamiert sieht. Mit diesem Befund geht die Forderung nach einem neuen Nachdenken über die Geschichte einher, dem freilich die Aufgabe zufällt, das Erbe der Geschichtsphilosophie in kritischer Weise anzutreten.
In Walter Benjamins Geschichtskonzeption sieht Machado einen Ansatz ausgebildet, der den Bedürfnissen nach einer kritischen Geschichtstheorie entgegenkommt. Das Ziel seiner Studie besteht darin, die Aktualität und Avanciertheit von Benjamins Geschichtsauffassung hervortreten zu lassen.
Machado rekonstruiert sie als eine säkularisierte figurative Denkform, die sich auf eine bildhafte und spannungsvolle Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart stützt und die offene Dynamik der Geschichte betont. Nun gehört die Konzentration auf die Begriffe "Figur" und "dialektisches Bild" schon länger zum Standard der Benjamin-Forschung. Der neue Aspekt, den Machado einbringt, besteht in der Entwicklung des Begriffs der figurativen Historiografie im Rekurs auf die traditionelle figurative Geschichtsdeutung sowie auf die Philosophie und Sprachtheorie Johann Georg Hamanns. Damit handelt sich Machado allerdings einige Schwierigkeiten ein, weil die Gehalte dieser traditionellen Theorien nicht unverwandelt in Benjamins dezidiert modernen Ansatz eingehen. Darüber hinaus wird die Entwicklungsdynamik im Denken Benjamins zu wenig beachtet, die zu erheblichen Revisionen früherer Auffassungen geführt hat. Durch eine stärkere Konzentration auf die Differenz des Spätwerks hätten die Einsichten der Studie deutlicher profiliert werden können.
Hervorzuheben ist die sachliche und problembewusste Art und Weise, in der Machado seine Gegenstände auslegt. In detaillierten Auseinandersetzungen mit Sigmund Freuds "Traumdeutung" und Marcel Prousts literarischer Darstellung der Mémoire involontaire treten die modernen Quellen hervor, die in die Konzeption des dialektischen Bildes eingeflossen sind. Darüber hinaus hält Machado stets präsent, dass Benjamin ein eminent politischer Denker gewesen war. Seiner Studie ist es so gelungen, im Durchgang durch die avanciertesten Einsichten der neueren Forschungsliteratur das gesellschaftskritische Erbe Benjamins neu zu vergegenwärtigen, das in vielen Arbeiten der letzten Jahre vergessen war.
Anmerkung der Redaktion: Falko Schmieder ist Mitarbeiter am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung.