Vorbemerkung

Das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung sieht sich in der Forschung zu Walter Benjamin um

Von Daniel WeidnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Weidner

Walter Benjamin sieht heute anders aus als vor zwei, drei Jahrzehnten. Man entdeckt seine Texte nicht mehr, sondern ist schon mit ihnen aufgewachsen, ja hat sie manchmal schon mit einem gewissen Überdruss vermittelt bekommen: Das sei der Autor, an dem man sich noch lange und erfolglos abarbeiten würde. Die Aura Benjamins bekam von vornherein eine ambivalente Note - was nicht eben nahe legte, seine Texte als Heilige Schriften zu behandeln, so wie es eben jene Lehrer getan hatten. Trotzdem blieben und bleiben Benjamins Texte immer wieder überraschend und lebendig, und zwar gerade an unerwarteter Stelle - sei es, dass einem weniger bekannte 'kleine' Texte plötzlich etwas sagen, sei es, dass Sätze, die man früher nur bewunderte, heute, in einem neuen, unerwarteten Kontext einen neuen und anregenden Sinn haben.

Der Großteil der Rezensenten dieses Schwerpunkts sind Mitarbeiter des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (ZfL). Dort haben sie immer schon mit Benjamin zu tun gehabt, denn es wurde und wird keine Benjamin-Forschung betrieben, sondern eher Forschung mit und nach Benjamin: eine Forschung, die nicht Benjamin und auch nur teilweise dessen Gegenstände untersuchte, die sich auch keinesfalls ausschließlich an dessen 'Methode' - wenn es denn so etwas gibt - klammert, sich aber zweier Impulse Benjamins verpflichtet weiß. Zum einen die Formulierungen von Problemen gerade in solchen Gebieten, die durch die geläufigen Disziplinengrenzen unsichtbar gemacht worden waren, etwa im Grenzbereich von Literatur und Religion oder Natur- und Geisteswissenschaften, Kunst und Wissenschaft. Zum anderen der Gestus, materiale historische Untersuchungen mit grundlegenden methodischen und epistemologischen Fragen zu verbinden. Nach jahrelanger - wie wir finden: produktiver - Arbeit liegt es nahe, einmal zurückzublicken, das eigene Denken auf die Probe zu stellen und sich zu fragen, ob und was die Impulse Benjamins jetzt noch sind. Das im Oktober dieses Jahres vom ZfL mitveranstaltete Benjamin-Festival "NOW - Das Jetzt der Erkennbarkeit" (http://www.benjamin-festival-berlin.de) wird dafür ein Forum sein. Auch wird die Herbstausgabe unserer Zeitschrift "Trajekte" sich mit Walter Benjamin beschäftigen: Mit seinen Archiven und mit neuen Archivfunden, mit seinem Bilddenken und seinem Umgang mit Begriffen, mit seiner Rezeption in der Kunst und seinen Spuren in der Literatur.

In der hier vorliegenden Ausgabe versuchen Mitarbeiter des ZfL sowie einige andere Autoren, in der Benjamin-Forschung der letzten Jahre Umschau zu halten. Selbstverständlich konnte dabei nicht sämtliche neue Literatur berücksichtigt werden, selbstverständlich spiegeln die Rezensionen auch subjektive Vorlieben wieder, denn es kam uns ja auch darauf an, die Bücher nicht primär als 'Beitrag' zur wachsenden Masse der Benjamin-Sekundärliteratur zu betrachten, sondern als Anregung zur Auseinandersetzung mit den Gegenständen und als Probe, wie 'lesbar' Benjamin heute ist. Es versteht sich ebenfalls von selbst, dass die verschiedenen Beiträger hier nicht mit einer Stimme sprechen, sondern durchaus unterschiedliche Positionen haben.

Trotzdem scheinen sich einige Tendenzen abzuzeichnen. Insgesamt scheint das Interesse leicht abgeflaut, Menge und Umfang der Publikationen sind aber immer noch beeindruckend. Ein Ende der großen Deutungskämpfe zwischen Metaphysikern und Materialisten zeichnet sich ab und erlaubt eine größere Beweglichkeit. Der Trend zu einleitenden und zusammenfassenden Gesamtdarstellungen und damit die Kanonisierung - aber auch Demokratisierung - des Autors Benjamin setzt sich fort. Es gibt weniger Scheu, ihn mit Theorien ganz anderen Zuschnitts zu kombinieren: nicht nur mit Dekonstruktion, sondern auch mit Systemtheorie. Und Benjamin wird jetzt anders, umfassender historisiert als früher, indem man nicht ständig die Originalität und Einzigartigkeit seiner Gedanken betont, sondern ihn in einen breiteren und über das Bekannte hinausreichenden Kontext stellt. So wirft die neuere Forschung zu Benjamin ein Licht auf seine Zeit, auf das was er uns heute sagen kann und schließlich auf sich selbst, auf den Stand jenes unbestimmten, weiten, beweglichen Diskurses - Philosophie, Literatur-, Medien-, Kulturwissenschaft, 'Kritik', 'Theorie'? oder alles zusammen? -, der sich an Benjamin seiner selbst versichert.