Der Soundtrack unseres Lebens
Kristof Magnussons kuscheliges Roman-Debüt "Zuhause"
Von Stefan Mesch
Besprochene Bücher / Literaturhinweise1994 strich sich die fünfzehnjährige Claire Danes ihr rot gefärbtes Haar zurück, biss nervös auf ihrer Unterlippe herum und lief sehr nachdenklich und in Slow Motion durch ewig sonnendurchflutete Schulflure. "My so-called Life" hieß die Serie um eine grüblerische Neuntklässlerin namens Angela, deutscher Titel: "Willkommen im Leben". Doch schon nach 19 Episoden war Schluss mit Teenie-Tiefsinn: Absetzung wegen schlechter Einschaltquoten. Vorbei die Zeit der tränenreichen Streits in der Mädchentoilette, der bedeutungsschwangeren Blicke quer über den Schulparkplatz. Vorbei auch die Voice Overs, Gedankenfetzen via Tonspur, mit denen Angela ihr Leben kommentierte: "It's such a lie that you should do what's in your heart. If we all did what was in our hearts, the world to grind to a halt." (Immer wieder kopierter) Schlüsselreiz der Serie, und unvermeidlicher Nachgedanke bei solchen Sätzen: "Ja, das habe ich auch schon immer gedacht, irgendwie." Sentimentale Gemüter fügten hinzu: "Aber noch nie so schön!" Kritiker zuckten die Schulter und wollen lieber Dinge hören, die sie noch nicht kannten.
Einer dieser Kritiker ist Helmut Böttiger. In der "Süddeutschen Zeitung" fragte er vor einigen Monaten, "warum die deutsche Gegenwartsliteratur so brav, ordentlich und monoton ist." Seine Antwort: Raymond Carver, Ingo Schulze, Judith Hermann. Diese Vorreiter in Sachen extrem stilisierter, befindlichkeitsfixierter Weltwahrnehmung definieren, so Böttger, seit fast zehn Jahren die junge deutsche Literatur: Dreiecksgeschichten, Twentysomething-Weltschmerz, ewiggleiche "Und immer wird gerade jemand anderes geküsst"-Handlungsmuster, plattensüchtige Schwerenöter, larmoyante Erstsemester-Jane-Eyres. Gefühle wie durch Milchglas. Und Inzest-Geschwisterpärchen, wieder und wieder.
Doch es ist falsch, all das dem Trio Carver-Schulze-Hermann anzulasten. Denn Ästhetik und Sound der jungen deutschen Literatur erinnern oft weniger an US-Short-Stories und deren Epigonen als an US-Fernsehserien. An all die Momente, in denen schöne, traurige Mädchen die Augen schließen, ihre Stirn gegen die Fensterscheibe lehnen, und im Hintergrund Singer-Songwriter-Balladen eingespielt werden. Eine Mischung aus Melodrama und Musikfernsehen, Alltagsbanalitäten und Weltschmerz, Selbstpsychologisierung und penetranter Publikums-Ankumpelei: Aus zwei, drei versprengten Kult-Phänomenen der 90er Jahre hat sich ein ganzes Genre gebildet, mit eigenen Gesetzen. Serien, Bücher und Autoren, die vor allem auf Fraternisierung bauen. Sie reihen Situationen aneinander, mit denen die Zielgruppe vertraut ist. Unterlegen sie mit stimmungsvollen Songs. Kuscheln sich ans Publikum, und raunen dabei: "Ich weiß, was du durchmachst."
Auch Lárus ist ein solcher Kuschler und Rauner. Der Erzähler aus Kristof Magnussons Romandebüt "Zuhause" möchte unser Freund werden. Er sagt nette, ein wenig skurrile Sachen über Liebe und Herzschmerz und das Erwachsenwerden, er erzählt aus seiner Kindheit, und er empfiehlt uns Musik. Lárus ist beinahe dreißig. Er ist (genau wie Kristof Magnusson selbst) Isländer, aber in Deutschland aufgewachsen. Mit acht, nach dem Tod seiner Mutter, zog die Familie nach Hamburg. Dort verdient er sein Geld damit, Dokumentationen über das Verhalten von Vögeln in Städten zu drehen. Jetzt, kurz vor Weihnachten, kehrt er einmal mehr nach Reykjavík zurück, um zusammen mit Matilda, seiner besten Freundin aus der Heimat, und ihrem Partner Weihnachten zu feiern. Milan, Lárus' Lebensgefährte, soll ein paar Tage später nachkommen. Behauptet Lárus. In Wirklichkeit hat er sich von Lárus getrennt. Und als dann auch Matilda zugibt, wieder Single zu sein, ist Lárus entsetzt: Seine "Weihnachten mit den Wahlverwandtschafen"-Pläne sind ernsthaft gefährdet.
Island-Kulisse hin oder her: "Zuhause" ist einer jener amüsanten und durch und durch harmlosen Twentysomething-Romane, in denen exzentrische Singles über die großen Fragen des Lebens nachdenken, tanzen gehen, mit Freunden auf Haarspaltereien herumreiten und sich nicht trauen, Verantwortung zu übernehmen. Über "Saga", einen ähnlich gelagerten Roman seines Kollegen Tobias Hülswitt, schrieb Kristof Magnusson: "Einige Sätze sind so schön, dass ich meine Patentante bitten werde, sie auf ein Stück Stoff zu sticken, damit ich sie mir gerahmt über das Bett hängen kann", und Jungautorin Anke Stelling fügte hinzu: "Das ist so ein haspelnder, liebenswerter, verdammt kluger Ich-Erzähler [in "Saga"], dass es schade wäre, ihn nicht kennen zu lernen. Seine Sicht auf die Dinge begleitet einen noch, wenn man das Buch längst zugeklappt hat." Beides ließe sich sofort auf "Zuhause" übertragen. Mehr noch: In Sachen "netter Erzähler" und "Kreuzstich-Aphorismen" übertrifft Magnusson noch viele seiner Genre-Genossen.
"Genre"? Aber hallo! "Zuhause" ist kein schlechter Roman. Aber er könnte auch von Tilman Rammstedt stammen, oder Selim Özdogan, oder Sven Regener: die Mechanismen sind vertraut, die Konflikte absehbar. Das ist keine Schwäche, kein Problem. Aber eine Angriffsfläche: "Man sitzt zusammen, redet über dies und das, und die Personen verwechseln sich sogar selbst", fasst Helmut Böttiger zusammen. "Es existieren etliche Arrangements des Glücks, eigentlich steht alles zur Verfügung. Doch immer gibt es auch ein merkwürdig klebriges Gefühl am Gaumen, die Luft ist ein bisschen stickig." "Teen-Angst" nannte man das in den 90ern. Dann kam das Modewort "Quarterlife-Crisis". Und ab 30 darf man dann sowieso vom "Peter Pan-Syndrom" sprechen: "Eigentlich sollten wir erwachsen werden." Die Themen, die sich Magnusson für sein Debüt ausgesucht hat, sind wohlbekannt: Wurde alles schon längst beschrieben - aber selten so gut!
Vor allem die Dialoge, die sperrige Dynamik zwischen Lárus und Matilda, machen Spaß. Matilda: "[...]weil du nur eine Seite von mir kennst. Und magst. Die, die zu dir passt. Der Rest meiner Persönlichkeit findet für dich gar nicht statt. Der Teil, der die Natur mag. Den Bauernhof. Die Gemeinschaft." Lárus: "Jeder muss lernen, allein sein zu können, je eher desto besser. Da muss ich nicht mit einer Vulkanologin zusammen wohnen und zwei Typen, von denen der eine Schachbücher liest und nicht redet, und der andere einfach so nicht redet." Matilda: "Das sind nette Leute." Lárus: "Nett ist die kleine Schwester von Scheiße." Matilda: "Halt doch den Mund, du Single!" Lárus: "Wenn hier einer ein Single ist, dann du." Matilda: "Aber aus freien Stücken. Weil ich Entscheidungen treffe, während du von ihnen überrumpelt wirst, du Opfer." Lárus: "Was denn nun, Single oder Opfer?" Matilda: "Single-Opfer!" Lárus: "Schlussmacherin!". Und so weiter. Joey und Dawson hätten das nicht besser hingekriegt. Will und Grace sowieso nicht.
"Zuhause" steckt voller Sachen, die man super finden kann. Nette Leute, die prima Zeug sagen über wohlbekannte Twentysomething-Probleme; Sätze wie: "Selbstmitleid stieg in mir auf wie ein riesiges rotes Aufblasgummitier." Im Hintergrund laufen Múm und Bright Eyes, Belle & Sebastian und die Smiths; vor allem aber "Home & dry" von den Pet Shop Boys, der "Theme Song" des Romans. Und dann spielt der Spaß auch noch in diesem kultur-skurillen Land, wo alle sowieso schon immer mal hin wollten; und Magnusson liefert dessen schonungslose Innenansicht: "Elfen sind für Isländer das, was für die Deutschen die Nazis waren. Mit dem Unterschied, dass es in Deutschland kaum Menschen gab, die behaupteten, kleine Horden androgyner SA-Männer schwebten in ihrem Garten herum und böten bei bestimmten häuslichen Verrichtungen ihre Hilfe an." Ist das nicht super?
Ist es! Mögen sie auch als bloße Modeerscheinung abgetan werden, all diese wohltemperierten Romane über junge Erwachsene, die ihrer Jugend hinterher trauern, als wären sie 40, aber durch ihr Liebesleben stolpern wie mit 14 - "Zuhause" hat das Zeug zum Lieblingsbuch. Und dass es in 20 Jahren hoffnungslos passé sein wird, ist kein Problem: Was den Nerv der Zeit traf, das wird der Zahn der Zeit nicht zermalmen können. Sondern zur liebenswerten Skurrilität veredeln, Stichwort "Der Frühstücksclub".
"Ein Rezensent, der etwas auf sich hält, ist aber auf Entdeckungen aus", nörgelt an dieser Stelle Helmut Böttiger. "Er will vorne dran sein, am besten sich und seiner Generation zum Durchbruch verhelfen. Bei einigermaßen geübter Schreibschulprosa, das weiß er, kann er nicht danebenliegen." Denn: "Die Techniken sind da, bevor die Inhalte kommen." Und er hat Recht: Magnusson, Absolvent des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, schreibt pointiert, versiert, routiniert. Aber den muffigen Kulturpessimismus der Suhrkamp-Fraktion hat Magnusson nicht drauf. Auch fehlt die schwül-schwere Altersgeilheit, die Romane von Altvorderen wie Martin Walser durchzieht. Oder der spröde Osteuropa-Vertriebenen-Sozialkitsch. Die unmotivierten sprachlichen Kabinettstückchen und Irritationsmomente. Der "Kulturweltspiegel"-Zeigefinger. Oder ewiglange Naturbeschreibungen - all die ollen Kamellen, auf die Rezensenten für gewöhnlich abfahren, sobald sie in junger Literatur zu Tage treten.
Natürlich ist "Zuhause" ein wenig flach. Aber was soll man auch erwarten, von einer Erzähltradition, die so sehr der episodischen Narration verhaftet ist, den Grabenkämpfen innerhalb privater Schutzräume? Einer Erinnerungskultur, die alle relevanten Initiationsmomente in Videotheken und Websites archiviert hat? Einer Musikszene, die sich so weit diversifizieren konnte, dass sich ganze Netzwerke grotesk ähnlicher Songs zum Soundtrack der eigenen Befindlichkeit zusammensampeln lassen?
Lárus selbst ignoriert seine Vergangenheit einfach. Aus Angst, sich eingestehen zu müssen, dass er nicht vom Fleck kommt, immer dieselben Fehler macht, die dann immer neue schmerzvolle Erinnerungen nach sich ziehen. Ebenso geht auch sein Autor Magnusson auf Nummer sicher, indem er vor allem mit bewährten Versatzstücken hantiert, statt auf Biegen und Brechen Revolutionäres schaffen zu wollen: Selbst die vielleicht subversivste Szene des Romans - Lárus rast in einem außer Kontrolle geratenen Jeep auf ein Sommerhaus zu - ist durch und durch selbstreflexiv.
Doch leider scheint der Kritikervorwurf, allzu formelhaft zu arbeiten, dennoch an Magnusson geknabbert zu haben: Obwohl "Zuhause" eine schöne, runde Sache hätte werden können, mischen sich in der zweiten Hälfte immer mehr Krimi-Elemente in den Plot. Plötzlich ist da noch eine tragische Liebesgeschichte. Und ein düsteres Familiengeheimnis. Und ein Selbstmord. Und eine Verschwörung: seitenweise wenig glaubhafter, extrem bemüht wirkender Kram, der den Erzählkosmos von "Zuhause" zwar spürbar erweitert - aber eben nicht zum Guten.
Vielleicht ist das symptomatisch. Vielleicht steht junger Literatur genau das bevor, was den Fernsehserien längst passiert ist: Auch nach Angelas Absetzung gab es noch viele, viele Stunden sonnendurchfluteter Schulflure, und bedeutungsschwangerer Blicke. Aber stets with a twist: In "Buffy" war das High-School-Mädchen gleichzeitig Vampirkillerin. In "Roswell" sind die Pennäler in Wirklichkeit Alien-Mensch-Hybriden. "Smallville" erzählt die Jugend von Superman. Die Studentin aus "Alias" jobbte nebenher als Geheimagentin. Und "Joan of Arcadia" führte Gespräche mit Gott. Doch solche Mischungen funktionieren nur selten. Denn sie setzen voraus, dass der Zuschauer nicht nur die Prämissen und Klischees eines Genres, sondern gleich die von zweien akzeptieren kann. Und dabei keines von beiden so ernst nimmt, dass eine Verlagerung des Schwerpunkts alles gefährden würde. In den besten Fällen - bei "Buffy" etwa oder der High-School-Detektivin "Veronica Mars" - bereiten die überdrehten und hochdramatischen Verwicklungen des Zweit-Genres den Nährboden für eine existentielle Traurigkeit im Alltag der Protagonisten: Der Schmerz und die Angst bleiben lebensecht, so überdreht auch das gewesen sein mag, das sie verursachte.
Und es ist diese Traurigkeit, die auch "Zuhause" rettet: Je absurder die Handlung Richtung Groschenroman kippt, desto mehr muss sich Lárus zwingen, erwachsen zu werden, und den Tatsachen ins Auge zu sehen. Und tatsächlich jubeln an dieser Stelle einige Kritiker und sagen: "So haben wir das tatsächlich noch nie gelesen." Als wäre das ein Argument: Judith Hermann lässt schließlich auch keine Zombies auftreten, nur, um die innere Verwahrlosung ihrer Liebespaare zu verdeutlichen!
Eines ist nach "Zuhause" jedenfalls klar: Kristof Magnusson kann stimmungsvolle Romane schreiben. Nur sollte er bitte, bitte nie mehr versuchen, mehrere von ihnen zugleich zu erzählen.
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