Kurz und gut?
Neues zu den Kleindichtungen des Strickers
Von Ines Heiser
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas einer breiteren Öffentlichkeit weniger bekannte Werk des Strickers, eines biografisch nicht näher fassbaren Dichters der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, ist nicht nur von der Anzahl der Einzeltexte her weit umfangreicher als das mehrerer seiner berühmteren Kollegen, wie etwa das Walthers von der Vogelweide oder das Wolframs von Eschenbach, es ist auch in seiner Vielseitigkeit unerreicht: Neben einem historisch-legendarischen Versroman über das Leben Karls des Großen verfasste der Stricker mit "Daniel von dem blühenden Tal" einen Artusroman und schuf mit dem "Pfaffen Amis" den ersten Schwankroman in deutscher Sprache. Zu diesen drei Hauptwerken tritt ein größerer, wenn auch teilweise nur unzureichend abzugrenzender und zu identifizierender Komplex an kurzen Reimpaardichtungen - Schwänken, Mären, Bîspeln, Reimreden und -erzählungen, die auf den Stricker zurückzuführen sind und mit denen er sich als hauptsächlicher Begründer dieser Textgenres in ihrer volkssprachlichen Form am Beginn einer deutschen Kurztexttradition positioniert.
Dieses Korpus kurzer Reimtexte stand im Zentrum eines im März 2004 in Santiago de Compostela abgehaltenen Kolloquiums. Die Ergebnisse der Tagung werden im vorliegenden Tagungsband, ergänzt durch eine aktuelle Bibliographie zu den Kleindichtungen des Strickers und erschlossen durch ein Autoren- und Werkregister, präsentiert.
Ähnlich heterogen wie die einzelnen Stricker'schen Kurztexte sind dabei auch die Beiträge, die in diesem Band zusammengefasst wurden: Während sich einige Studien, wie etwa die von Walter Haug, Michael Schilling, Franz-Josef Holznagel und Ralf-Henning Steinmetz um eine Würdigung und Klassifizierung eines möglichst breiten Ausschnitts aus diesem Kurztextkorpus, wenn nicht gar um eine Gesamteinschätzung des Autors bemühen, greifen andere ausdrücklich Einzeltexte, einzelne Textuntergruppen oder auch bestimmte inhaltlich-thematische Bereiche auf.
Zu den spezielleren Untersuchungen, die sich mit enger umgrenzten Einzelaspekten Stricker'scher Kurztexte befassen, gehört etwa der Beitrag von Emilio González, der sich mit der Darstellung der Figur des Wolfs in den "Tierbîspeln" des Strickers auseinander setzt. Die Wolf-Figur des Strickers deutet González dabei vor dem Hintergrund einer allgemeineren mittelalterlichen lupus monachus-Tradition, die verschiedene Geschichten umfasst, in denen jeweils ein Wolf Buße für seine Sünden tun will und deswegen zum Mönchtum übertritt, am Ende den Versuchungen seiner bösen Natur aber unweigerlich wieder unterliegt, oder aber - in einer zweiten Variante - in denen der Wolf das Habit eines Mönches benutzt, um sich Vorteile zu erschleichen und die Vorsichtsmaßnahmen seiner möglichen Opfer zu unterlaufen. González zeigt dabei schlüssig, dass gerade das Wissen der Rezipienten um diese Texttraditionen bzw. die Kenntnis bestimmter Erzählmuster (hier der Bekehrungs-/conversio-Erzählung) zu einem nicht unbeträchtlichen Teil zu Verständnis und Wirkung der Stricker'schen Tierbîspel beigetragen haben.
Ähnlich konkret und textbezogen beschreibt Maryvonne Hagby die Beziehungen einer weiteren Stricker'schen Textgattung, der ,Tiereigenschaften', zur mittellateinischen ,Physiologus'-Tradition. Hagby zeigt, dass der Stricker trotz einer recht großen Treue gegenüber den Vorlagen seine literarischen Spielräume sehr genau kannte und diese geschickt und angemessen zu nutzen wusste: Obwohl ihm die im ,Physiologus' und den darauf zurückgehenden Bestiarien genannten typischen Eigenschaften verschiedener Tiere und die jeweils zugehörigen theologischen Auslegungen offensichtlich bekannt sind, verfügt er über dieses Instrumentarium sehr frei, indem er selbst Elemente umdeutet, erweitert oder durch verschiedene erzähltechnische Mittel die Auslegungsebene verschiebt.
Während diese Studien zu Einzelaspekten in den Kurztexten des Strickers - dazu gehört neben den Untersuchungen von González und Hagby etwa auch die von Sebastian Coxon zum Motiv des kollektiven Verhöhnens von Figuren - insgesamt sehr nahe an der Textgrundlage argumentieren, weitgehend nachvollziehbar und in einem positiven Sinne wenig provokant sind, zeigen dagegen die Aufsätze, die sich eher mit einer Gesamtdeutung und -bewertung der Stricker'schen Kleinepik befassen, dass eine übergreifendere Auseinandersetzung mit dem Werk dieses Dichters in der germanistischen Mediävistik bei weitem noch nicht abgeschlossen ist und dass die verschiedenen Forschungspositionen in Hinblick auf die literarische Qualität dieses Werks weiterhin konträr bleiben.
Unbestritten scheint zwar inzwischen die Einschätzung, dass der Stricker Bahnbrechendes für die verschiedenen Genres der deutschen Verserzählung geleistet habe. Abgesehen aber von diesem ihm zugestandenen Status als Pionier deutscher Kleinepik vertreten auch führende Spezialisten des Faches wie beispielsweise Walter Haug weiterhin die Meinung der älteren Forschung, dass die literarische Leistung des Strickers als solche eher als minderwertig einzuschätzen sei: "Ungekonnt ist es ja nicht, was er bietet, aber doch eher grobschlächtig, ohne besondere erzählerische Rafinesse." Wenn Haug feststellt, dass der Stricker weder in der Lage sei, sinnvoll exemplarisch zu erzählen, noch komplex-mehrschichtige Erzählungen zu konstruieren, nie die ideale Erzählform eines mehrfach bearbeiteten Stoffes biete und auch kein schlüssiges Gesamtkonzept habe, wendet er sich damit gegen eine Arbeit von Hedda Ragotzky, die bereits 1981 versucht hatte, ein solches übergeordnetes Erzählkonzept in Form eines moralischen Aufrufs zur Stabilisierung bzw. Wiederherstellung der guten Weltordnung durch kluges und angemessenes Verhalten (gevüege kündikeit) zu postulieren.
Während Haug in seiner vorliegenden Studie hauptsächlich erzähltheoretische Argumente gegen Ragotzkys moralisch-ideologische Position ins Feld führt, unternimmt Michael Schilling in einem weiteren Beitrag des Bands den Versuch, unter dem Gesichtspunkt einer "Poetik der Kommunikativität" die literarische Ehre des Strickers zu retten, indem er mehrere der angeblichen erzählerischen Schwächen als "Momente erzählerischen Kalküls" deklariert, die im Rahmen einer Analyse der Texte als Teil eines kommunikativen Prozesses zwischen Autor und Publikum produktiv aufzulösen seien.
Wie bereits diese knappe, übersichtsartige Darstellung zeigt, spielt sich die lebhaft geführte Debatte um die grundsätzliche literarische Qualität des Strickers bislang also auf sehr unterschiedlichen Ebenen ab, wobei die einzelnen Aspekte gerade aufgrund ihrer verschiedenen Bezugsrahmen und Reichweiten kaum sinnvoll gegeneinander aufzuwiegen sind, u. a. auch deswegen, weil die Verfasser offensichtlich nicht von einer gemeinsamen Definition eines "literarisch gelungenen Textes" ausgehen.
Endgültig klären lässt sich daher die Frage, ob der Stricker ein "guter" Dichter ist, auch nach der Lektüre des vorliegenden Tagungsbandes kaum. Man kann indessen vermuten, dass zunächst noch einiges an weiterer Grundlagenarbeit, insbesondere auch eine neue zuverlässige Edition der Kurztexte, zu leisten sein wird, bevor ein abschließendes Urteil dazu auf einer fundierten Basis möglich ist.
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